597: 2 = 294 = Mehrheit

Warum eine Sauerlandschule eine Klippschule sein muss und Rot-Grün grundsätzlich anders rechnet als Schwarz-Gelb

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Kennen Sie die neue Rentenanpassungsformel, die Gleichung also, mit deren Hilfe bis 2010 jedes Jahr die Höhe der Rente neu berechnet wird? Nein?

aRWt = aRWt-1 * BEt–1*100–AVAt–1–BSt–1

BEt–2 100–AVAt–2–BSt–2

Diese Formel sollten Sie sich einen Augenblick lang merken. Keine Bange, sie sieht nur kompliziert aus. Sie ist lächerlich einfach gegen das Zahlenwirrwarr, das Politiker von Regierung und Opposition gestern im Bundestag aufgefahren haben, um nachzuweisen, dass der Kanzler eine eigene Mehrheit hinter sich bzw. gerade nicht hinter sich hatte.

Aber vielleicht referieren wir zunächst die wichtigsten Fakten des gestrigen Tages, den Überblick verlieren wir noch schnell genug. Der Bundestag beschloss fünfzehn Gesetze, davon zwölf Gesetze der Agenda 2010, mit großer Mehrheit. Die rot-grüne Regierung hat damit, dank der Hilfe von CDU/CSU und FDP, ihr sozial- und steuerpolitisches Mammutprogramm durchs Parlament bekommen. Ob diese Gesetze dazu führen, dass „Deutschland sich bewegt“ (Gerhard Schröder), ob sie den wirtschaftlichen Aufschwung bringen, ob sie vor allem dem sozialdemokratischen Kanzler die Wiederwahl 2006 ermöglichen – wer kann das an diesem 19. Dezember schon so genau vorhersagen. Aber eines war gestern ganz sicher: Schröder ist nicht zurückgetreten. Er sitzt immer noch im Kanzleramt.

Wenn es nach der Opposition geht, dürfte Schröder dort nicht mehr sitzen. Sie forderte seinen Rücktritt und bemühte dafür mathematische Rechnungen, die man ohne Abitur an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium nicht so ohne weiteres versteht. Ab jetzt wird’s etwas kompliziert, weil natürlich Politiker der rot-grünen Regierung, statistisch gesehen, von Mathematik genauso wenig verstehen wie die der Opposition. Aber besonders die Sozialdemokraten taten gestern so, als wären sie beim großen Gottfried Leibniz persönlich in die Schule gegangen.

Dabei sind die Roten und die Grünen selbst Schuld an diesem Rücktrittsdrohungszirkus. Sie verstehen zwar nichts von Mathematik, aber viel von Macht. Und so hatten sie, allen voran der Kanzler und sein SPD-Fraktionschef Franz Müntefering, seit Tagen für alle Gesetze eine eigene rot-grüne Mehrheit gefordert. Kündigungsschutz, Tabaksteuer, vorgezogene Steuerreform – überall stand die Koalition dann auch wie eine Eins. Nur bei der Verabschiedung des Hartz-IV-Gesetzes – es schreibt fest, dass für Langzeitarbeitslose jeder Billigjob zumutbar ist –, stimmten sechs grüne und sechs SPD-Abgeordnete mit Nein. Dazu kamen jeweils zwei Gegenstimmen von der CDU und von der PDS.

597 Abgeordnete hatten über dieses Gesetz abgestimmt. Jastimmen von Rot-Grün: 294. Jastimmen von Schwarz-Gelb: 287. War das jetzt die Mehrheit für die Regierung? Oder verlangt die „eigene Mehrheit“ die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, in diesem Fall also 299? Diese Frage beschäftigte Politiker und Journalisten in der Reichstagslobby geschlagene anderthalb Stunden. Das war ein überzeugender Beweis für die These, dass Politiker nur deswegen Politiker und Journalisten deswegen Journalisten geworden sind, weil sie nicht rechnen können.

„Wir haben die eigene Mehrheit“, sagte Müntefering. Er machte die Sache kurz. „294 ist mehr als 287. Das habe ich auf der Sauerland-Schule so gelernt.“ CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer flippte aus, als er das hörte. „Ohne Angela Merkel hätten Schröder und Müntefering dieses Gesetz nicht durchbekommen. Das ist die Wahrheit des heutigen Tages.“ Meyer bescheinigte Müntefering, auf eine Klippschule gegangen zu sein. Er empfahl einen neuen Volkshochschulkurs: Rechnen für Sauerländer. „Hier geht es nicht um Mathematik, sondern um Rechnen“, antwortete Müntefering.

So ging das hin und her: Mehrheit oder keine Mehrheit. Rechnen oder Mathematik. Dann trat Angela Merkel vor die Fernsehkameras. Sie ist immerhin Physikerin. „Bei 597 Stimmen beträgt die Mehrheit nach Adam Riese 299. Soviel hat Rot-Grün nicht erreicht. Das ist eine schwere Niederlage für den Kanzler.“ Als ein Journalist anmerkte, dass ein gewisser Helmut Kohl immer behauptet habe, entscheidend sei, was hinten rauskommt, und Schröder seine Gesetze doch durchbekommen habe, stotterte Merkel etwas von einem „Schlag ins Gesicht der Agenda 2010“.

Erst ganz am Ende der konfusen Debatte zeigte sich ein generöser Gerhard Schröder, gelernter Einzelhandelskaufmann und studierter Jurist. Natürlich habe Rot-Grün eine eigene Mehrheit, sagte er. Aber man solle jetzt nicht anfangen, kleinkariert zu rechnen. „Unsere Menschen haben gewonnen“, sagte er. „Das ist genug.“

Typische Schröder-Rechnung.