Lebenslüge für die unteren Klassen

betr.: „Richter sägen am Bollwerk gegen Studiengebühren. Der Souverän bestimmt den Preis“, Kommentar von Christian Füller, taz vom 2. 12. 04

Dass selektive Strukturen eines Bildungssystems so weit wie möglich abgeschafft werden sollten, steht doch wohl außer Frage. Dass das deutsche Bildungssystem hochgradig selektiv ist, doch wohl ebenso. Dass man diese Tatsache auf der einen Seite anprangert (starkes Defizit in der frühen Bildungsphase), auf der anderen jedoch goutiert (Bezahlstudium: und das ist auch gut so), halte ich für bigott. MALTE RÄTHER, Kellinghusen

Was soll das für eine Logik sein, zu sagen, man solle angesichts der im Schulbereich existierenden sozialen Hürden noch mehr Hürden im Bereich der Hochschulbildung draufsetzen? Das verschärft das bestehende Problem doch noch! PIA LABORGNE, Karlsruhe

Jawoll, „Terror der Ökonomie“ von der Wiege bis zur Bahre, vom Kindergarten über die Hochschule bis zum Altersheim! Und am Ende kloppen wir uns noch um einen Platz auf dem Friedhof!

Interessant ist in Füllers Kommentar die „Dampfer“-Metapher. Spielt er zynischerweise auf den Untergang der „Titanic“ an? Dabei sind in der Tat zuerst die Heizer im Maschinenraum ersoffen, als der Eisberg gerammt wurde. Lassen sich da nicht Parallelen zur Schröder’schen Sozialkahlschlagspolitik erkennen, die nichts Besseres zu tun weiß, als die zivilisatorischen Errungenschaften von 150 Jahren sozialistischer Bewegung vor die Wand zu fahren?

THOMAS BECKER, Wuppertal

Dass man einem Autor ein Forum bietet, der dieselbe Strategie wie der herrschende Diskurs betreibt, nämlich mehrere soziale Ungleichheiten gegeneinander auszuspielen, ist beschämend. Fünf Fehlschlüsse sind hier wohl zu nennen, die korrigiert werden sollen.

1. Hier wird unkritisch das staatliche Urteil als Wahrheit ausgegeben, die als „interesselos gesetzt“ für das Wohl des Volkes sprechen soll; als ob die Errungenschaften der Linken nicht gerade darin bestanden, den Staat als Institution eines hegemonialen Interesses immer wieder bloßgestellt zu haben. Diese Unfehlbarkeit des staatlichen Urteils ist nicht anders als mit einem demokratischen Mangel zu erklären, der die Legitimität der Artikulation von Interessen an der Marktsituation misst.

2. wird der freie Zugang zum Wissen als Lebenslüge deklariert. Was soll denn damit gemeint sein? Hier wird eine Forderung mit einem Werturteil verwechselt. Zu sagen, Bildung darf keinen Preis haben, ist etwas anderes, als sich der Illusion hinzugeben, dass dies ein ahistorisches Recht der Studierenden sei.

3. wird ein Privilegsverhältnis als statisch hingenommen, das selbst so nicht sein müsste. Füller begeht denselben Fehler wie lange Zeit die komplette Theorie der sozialen Ungleichheit, nämlich: nicht nach oben zu schauen. In Anbetracht der Situation, dass an vielen Universitäten eine Ausbildungsstrategie Anwendung findet, mit der immer weniger Studierende aus den unteren sozialen Klassen einen sozialen Aufstieg zu verzeichnen haben, kann man doch nicht den Fehler begehen, die Elitenrekrutierung außer Acht zu lassen.

4. ist das Sprechen vom „Bildungsdampfer“ und seinem „Maschinenraum“ hochgradig paternalistisch gefärbt. Hier spricht der realistische Chef über das bestmögliche Funktionieren seiner eigenen Belegschaft, ohne dass diese zu sehr leiden soll. Die Hauptschüler werden es danken und gerne die Auf- und Umwertungsstrategien der Bildungstitel mitmachen. Damit ist das Ziel eines marktfömigen Bildungswesens stabilisiert.

5. ist Herrn Füller wohl nicht klar, dass Bildung mehr ist als nur ein Sonnendeck. Was vielleicht als Privileg aussehen mag, ist ein schwindender Hort an biografischer Freiheit, der mit der Einführung von Studiengebühren letztendlich verschwinden wird. Dass die Bemühungen dahin gehen müssten, diese Freiräume möglichst jedem zugänglich zu machen, wenn nicht sogar auszuweiten, scheint aber gerade nicht das Anliegen Herrn Füllers zu sein. Er will wohl doch lieber die Pädagogisierung der Lebenswelt vorantreiben und die heutigen Hauptschüler ein Stück voranbringen, um sie dann einer Universität vorzuführen, die sie wegen der finanziellen Ausstattung dann wohl doch nicht nehmen wird. Was hier unterbreitet wird, ist in Wahrheit eine Lebenslüge für die unteren Klassen.

LARS ALBERTH, Wuppertal