„Der Osten braucht eine Wertedebatte“, sagt Martina Weyrauch

Die Patriotismusdebatte als Drohung zu deuten ist falsch. Es gibt einen Bedarf an demokratischer Selbstversicherung

taz: Frau Weyrauch, CDU-Politiker wie Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm wollen mit Patriotismusparolen Rechtswähler gewinnen. Stärkt das nicht die Rechtsextremen?

Martina Weyrauch: Das denke ich nicht. Politiker müssen die Fragen diskutieren, die die Menschen bewegen. Dass NPD und DVU jetzt in den Landtagen sitzen, kann dafür ein Auslöser sein, aber wir müssen die Debatte um unserer selbst willen führen. Die Erfolge undemokratischer Parteien zeigen, dass wir unserer Souveränität als demokratische Menschen unsicher sind.

Woran liegt das?

Wir hatten im Osten 1989 und 1990 als die DDR ins Rutschen kam, eine gesellschaftsweite Debatte über die Frage: Wie wollen wir leben? Welche Werte vertreten wir? Diese Debatte ist durch die Wiedervereinigung abgewürgt worden. Die Leute hatten damit zu tun, herauszukriegen wie die bundesdeutsche Gesellschaft funktioniert, und schwierige wirtschaftliche Zeiten zu überleben. Wir haben keine wirkliche öffentliche Verfassungsdebatte gehabt. Die Bestrebungen für eine neue gesamtdeutsche Verfassung in der die Anregungen des runden Tisches einfließen sollten, wurden ad acta gelegt. Fünfzehn Jahre später haben sich die demokratischen Spielregeln der Bundesrepublik scheinbar auch im Osten etabliert. Doch viele finden bei ihr keine Antwort auf derzeitige Krisen. Dass sie sich damals mit einer gegebenen Situation abgefunden haben, rächt sich bis heute. Deshalb kommt die Debatte auch auf eine anarchische Weise immer wieder zum Ausbruch.

Die neue Leitkulturdebatte eine ostdeutsche Diskussion? Die Protagonisten kommen meist aus dem Westen.

In Ostdeutschland ist die Diskussion abgebrochen worden, in Westdeutschland wurde vergessen, dass sie wieder geführt werden muss. Im Osten ist das Fehlen dieser Diskussion aber ein schmerzhafterer Mangel. Ein Beispiel dafür ist die Hilflosigkeit vieler Menschen, die Demokratie gegenüber den Antidemokraten zu verteidigen. Allerdings merke ich auch bei Veranstaltungen im Westen, dass dort das Bedürfnis nach einer Wertedebatte stark ist.

Warum? Der Westen kennt die Verfassung seit 50 Jahren.

Aber viele Leute im Westen sagen, sie hätten lange nicht mehr über Grundlagen des Zusammenlebens nachgedacht. Das ist einerseits positiv, denn es zeigt wie stark der demokratische Wertekonsens dort verwurzelt ist. Andererseits haben viele vergessen, dass sie für Demokratie kämpfen müssen. Bisher existierte ein scheinbarer Grundkonsens über bestimmte Werte und Normen aber in der derzeitigen Krise durch die sozialen Reformen und durch die Erfolge der Rechten bricht der natürlich in Ost und West auf. Von daher muss die Diskussion gesamtdeutsch geführt werden.

Auf diese deutschtümelnde Art, wie es Schönbohm tut?

Bassam Tibi, der den Begriff Leitkultur vor vier Jahren aufgebracht hat, spricht inzwischen von einer europäischen Leitkultur. Um allerdings dahin zu kommen, muss ich erst in meiner Region und in meinem Land klären, auf welcher Grundlage ich mit anderen zusammenleben will.

Hat denn jemand etwas zu klären, außer ein paar profilierungssüchtigen Politikern?

Aber natürlich – was ist denn das für eine Frage! Bei allen unseren Veranstaltungen kommen die Leute immer auf dieses Thema. Das sind auch nicht nur Intellektuelle, sondern auch Maurer und Elektriker, junge Leute und alte. Und zwar deshalb, weil sie keine anderen Orte haben, wo sie frei über solche Dinge reden können. Diese Debatte ist also notwendig, und es ist völlig unverständlich, dass sie als Drohkulisse verstanden wird.

Als Atheist oder Muslim mag einen der von Stoiber verkündete christliche Patriotismus schon befremden, oder?

Darin liegt der Fehler – die Religionsdebatte muss von der Wertedebatte getrennt werden. Was uns in Europa vereint, ist die Trennung von Staat und Kirche. Nur auf dieser Grundlage können wir uns unabhängig von unseren religiösen Bekenntnissen auf gemeinsame Werte verständigen. Das einige Politiker da unscharf denken und reden, ist doch eine Aufforderung an uns, sich endlich der gebotenen intellektuellen Schärfe zu bedienen.

Noch mal zu demokratischer Souveränität. In Brandenburg und Sachsen gibt es keine gemeinsame Strategie der Demokraten gegen DVU und NPD. Brauchen die Abgeordneten Politikberatung?

Die Frage ist, wer diese leisten soll. Zum Rechtsextremismus wird seit vielen Jahren von klugen Wissenschaftlern geforscht. Von solchen haben die Brandenburger Parlamentarier versucht, sich Rat zu holen. Konkrete Handlungsanweisungen konnten die Experten aber nicht geben. Da sind mir viele Wissenschaftler nicht offensiv genug. Für ihre Forschungen sind richtigerweise Steuergelder geflossen, ich möchte dafür aber auch Hinweise erwarten können.

Hat die Rechtsextremismus-Forschung versagt?

Das nicht. Aber gerade jetzt brauchen Politiker Ratschläge und da drücken sich Wissenschaftler vor konkreten Aussagen. Ihre Forschungsergebnisse sind oftmals allgemein und unverbindlich. Da schlägt wissenschaftlicher Pluralismus allzu leicht in Beliebigkeit um. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ