Falsche Einfühlung

JEWISH FILMFESTIVAL Die Auseinandersetzung mit den Tätern des Holocaust und ihren Kindern ist ein Thema des 15. Jüdischen Filmfestivals. Das Mitgefühl mit den Opfern findet nicht immer die richtige Bildsprache

„Jeder Vater, der im Krieg ist, soll an seine Kinder denken. Wenn sie sehen, was ihre Väter getan haben, werden sie in der gleichen Situation wie ich sein. Sie werden nie ein normales Leben führen können.“

MONIKA HERTWIG

VON ULRICH GUTMAIR

Am schlimmsten ist das Ende dieses an Nötigungen nicht armen Films. Die Kamera begleitet den achtjährigen Protagonisten in die Gaskammer. Dann wirft sie einen Blick nach oben, wo ein SS-Mann mit Gasmaske zu sehen ist, der Zyklon B nach unten streut. Erst dann zieht sich die Kamera vor die Stahltür zurück, gegen welche die Eingeschlossenen verzweifelt hämmern.

Das Blickregime von „Der Junge mit dem gestreiften Pyjama“ tut genau das, was der Film den Nazis vorwirft: Es behandelt die Insassen eines Vernichtungslagers wie seltsame Tiere im Zoo. Wenn sie am Ende massenhaft ermordet werden, ist das Teil ihres unvermeidlichen Schicksals. Mitleiden soll der Zuschauer vor allem mit dem Sohn des KZ-Kommandanten, der versehentlich mitvergast wird. Können wir den verbrecherischen Charakter der „Endlösung“ erst verstehen, wenn wir uns vorstellen, goldgelockte Arierkinder seien da ermordet worden?

Diese Perspektive liegt in der Logik des Films, der von der Täterseite aus auf das Verbrechen blicken will, aber nur zu falscher Einfühlung auffordert. Es ist richtig, dass die Analyse der Täter „produktiver“ für eine an humanistischen Werten orientierte Gesellschaft ist, sie muss dabei aber distanziert bleiben und die Opfer als Personen im Blick behalten. Es ist daher ein Rätsel, warum ausgerechnet dieser Film zum Auftakt des 15. Jüdischen Filmfestivals, das die Jüdische Gemeinde Berlin zusammen mit dem Arsenal und anderen veranstaltet, gezeigt wurde.

Beruhigend ist dagegen, dass der Preis für den besten deutschen Film mit jüdischer Thematik an Michael Verhoevens „Menschliches Versagen“ vergeben wird. Die Dokumentation spinnt ein komplexes Netz von sich gegenseitig durchwirkenden Erzählungen, die nicht nur einzelnen Betroffenen von Vertreibung und Mord ein Gesicht geben. Dieser Film vermittelt, wie viele von der Judenfeindlichkeit profitierten: Durch eine frei werdende Stelle oder das Schnäppchen, das sich auf einer Auktion machen ließ.

Was die Auseinandersetzung mit den Tätern bedeuten kann, zeigt der Dokumentarfilm „Inheritance“ des amerikanischen Regisseurs James Moll. Er lässt eine Frau darüber erzählen, was es wirklich heißt, die Tochter eines KZ-Kommandanten zu sein: „Jeder Vater, der im Krieg ist, soll an seine Kinder denken. Wenn sie sehen, was ihre Väter getan haben, werden sie in der gleichen Situation wie ich sein. Sie werden nie ein normales Leben führen können.“ Monika Hertwig ist die Tochter von Amon Göth, des für seinen Sadismus bekannten Kommandanten des KZ Plaszow bei Kraków. Als solcher war er nicht nur für die Ermordung vieler Tausender verantwortlich. Viele von ihnen erschoss er selbst, manchmal vom Balkon seines Hauses aus. Zwei jüdische Dienstmädchen mussten für ihn arbeiten, eine ist die Überlebende Helen Jonas-Rosenzweig.

„Inheritance“ handelt vom Treffen Monika Hertwigs mit Helen Jonas-Rosenzweig. Molls Film hat eine unvermeidlich voyeuristische Komponente, indem er die hoch emotionale Beschäftigung der beiden Protagonistinnen mit der Vergangenheit aus nächster Nähe zeigt. Zwar erzählt der Film dabei nichts Neues über Nazitäter, doch er kann verständlich machen, wo der Einfühlung in die Täter und den gesellschaftlichen Entlastungsdiskursen eine Grenze gesetzt werden muss. In einer zentralen Szene berichtet Hertwig darüber, welche Scheinargumente man in ihrer Kindheit in den Fünfzigern zu den angeblichen Gründen der Vernichtung der Juden vorbrachte. Da wird sie vehement von Jonas-Rosenzweig gestoppt: Die Wiederholung dieses Diskurses sei eine Fortführung des Bösen.

Wer mit der Tochter des Kommandanten mitfühlt, die mit Schuldgefühlen kämpft und mit dem schrecklichen Verdacht gegen sich selbst leben muss, sie sei so wie ihr Vater, kann die Einschätzung ihrer Gesprächspartnerin verstehen. Helen Jonas-Rosenzweig sagt, es sei egoistisch von Göth gewesen, ein Kind zu zeugen. In diesem Sinn ist auch die Tochter des KZ-Kommandanten eines seiner „Opfer“.

Das ist eine Dimension, die „Der Junge mit dem gestreiften Pyjama“ vielleicht benennen wollte. Gelungen ist ihm das nicht – weil er die persönliche Auseinandersetzung der Kinder von Tätern mit ihren Eltern symbolisch mit dem Tod der Opfer vermischt. Monika Hertwig ist sich der Unmöglichkeit dieser Gleichsetzung auf so schmerzliche Weise bewusst, dass sie jedes Mitgefühl für die Kinder von Tätern, und damit für sich selbst, von sich weist.

Jewish Film Festival, bis 17. Mai im Arsenal, Filmpalast Delphi und Filmmuseum Potsdam, Programm: www.jffb.de