Projektionsfläche aus uraltem Stein

Wenn Roland im kommenden Jahr 600 wird, soll er nicht nur mit Bratwurst und Karussel gefeiert werden. Doch ob für eine ernsthafte Aufarbeitung seiner Geschichte und des damit verbundenen Freiheitsbegriffs genügend Mittel bereit gestellt werden, ist noch ungewiss

Ringelnatz sah nur Brustwarzen, für Sigmund Freud war der Fall klar: „Ein Gesicht von unergründlichem Stumpfsinn“

Bei ihm trifft man sich. Firmen und Geschäfte schmücken sich mit seinem Namen. Zum Freimarkt wird er mit einem riesigen Lebkuchenherz ausgestattet, und wenn Werder deutscher Meister wird, trägt er einen grün- weißen Schal – nächstes Jahr zum Beispiel. Da wird er auch 600 Jahre alt, und die Planungen für diesen Geburtstag laufen auf Hochtouren.

Wie der Zufall es will, ist zur gleichen Zeit wie Rolands 600 Jahr-Feier Abgabetermin der Bewerbung Bremens zur „Kulturhauptstadt Europas“. Roland 2004: Ein Trumpf im Kampf um den begeherten Titel? Die Köpfe der Bremer Marketing-Gesellschaft und des Projektbüros Kulturhauptstadt brüten derzeit darüber, wie das im einzelnen aus sehen könnte.

Ein offenbar hoch sensibler Entscheidungsprozess, bei dem es sowohl gilt, dem Hunger nach Event und Bratwurst gerecht zu werden, als auch die geistesgeschichtliche und politische Bedeutung der Figur ausreichend zu würdigen. Grundsätzlich wolle man nicht ausschließlich ein Volksfest und wünsche sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe, erklärt Jens Jost-Krüger vom Kulturhauptstadt-Projektteam.

So seien neben einer gigantischen Multimediashow („Gesichter der Freiheit“) sowie einem Fest auf dem Domshof auch andere „Bestandteile einer Auseinandersetzung“ geplant. Jörn Christiansen zum Beispiel, Direktor des Focke-Museums, würde den stummen Riesen liebend gern zum Plaudern bringen. Im Laufe der 600 Jahre hat sich viel „Zu Füßen des Rolands“ angesammelt, so der Arbeitstitel des angedachten Focke-Projekts.

An entsprechendem Material wäre in der Tat kein Mangel. Der Bremer Roland ist unter seinesgleichen in anderen deutschen Städten der Größte und Älteste: Im Jahr 1404 wurde er errichtet, nachdem sein hölzerner Vorgänger 1366 im Auftrag von Erzbischof Albrecht II verbrannt worden ist. Die Geistlichkeit vor Ort empfand ihn als Bedrohung, da er als Stellvertreter bürgerlichen Selbstbewusstseins und Freiheitsstrebens gegenüber den feudalen Strukturen galt.

Der historische und zugleich reichlich legendäre Namenspatron der Figur wurde als Sohn der Schwester von Karl dem Großen geboren, möglicherweise ist er sogar aus einem inzestuösen Verhältnis der Geschwister hervorgegangen.

Nach seinem „Märtyrertod“ im Kampf gegen die Sarazenen in der berühmten Schlucht von Roncevalles galt Roland als Idealfigur ritterlicher Tugenden. Als Karls „kämpfende Hand“ wurden Roland-Statuen mit dem Kaiserwappen ausgestattet, was auch den Anspruch mittelalterlicher Städte auf „Reichsunmittelbarkeit“, also die Unabhängigkeit von feudalen Landesherren unterstrich. Darüber hinaus wurde der Roland in Bremen auch für alltagspraktische Zwecke genutzt: Der Abstand zwischen seinen spitzen Knien diente als Urmaß für den Handel.

Damit wäre es während der französischen Besetzung Bremens beinahe vorbei gewesen: Napoleon wollte die Figur, ganz im Stil seiner ägyptischen Kunstraubzüge, mit nach Hause nehmen und der Mona Lisa im Louvre zugesellen. Das konnten die Bremer gerade noch verhindern, und so schlummert der Roland-Originalkopf heute nicht in Paris, sondern im Focke-Museum.

Wie Mona Lisas Lächeln, so bringt auch Rolands Gesichtsausdruck die täglichen Besuchertrauben vor seinen Füßen zum Rätseln. Als „ein Gesicht von unergründlichem Stumpfsinn“ beschrieb schon Sigmund Freud sein Antlitz, und Wilhelm Hauff erschauerte – nach dem Genuss der Ratskeller-Weine – vor dem „steifen und seelenlosen Gesicht“. Joachim Ringelnatz’ ebenfalls eher trunkene Aufmerksamkeit richtete sich hingegen auf Rolands spitze Knie, die er als „Brustwarzen“ identifizierte.

Jetzt sitzt das Focke-Team auf heißen Kohlen und erwartet den finanziellen Startschuss, um rechtzeitig zum Geburtstag die Materialfülle zu sammeln und sichten. Aber noch fehlen verbindliche finanzielle Rahmenbedingungen.

Esther Brandau