In der Kappe des Narren

GROSSE FRAGEN Die Brüder Grimm und das Künstlerprekariat: Der Regisseur Simon Solberg überschreibt am Schauspiel Frankfurt Klassiker mit Gegenwart und Witz

„Ich halte mich an die alte Clownsregel ,first make them laugh‘ “, erzählt Solberg, „und dann kannst du dem Publikum auch den Boden unter den Füßen wegziehen“

VON ESTHER BOLDT

Die Brüder Grimm leben im Bauwagen: Tagsüber spielen sie ihre Märchen und abends essen sie Ravioli aus der Dose. Bis Jakob keine Lust mehr hat. Er sucht sich lieber einen gescheiten Job, als noch länger Theaterbudenzauber zu betreiben. Und Wilhelm liest sich in Ratgebern Mut an für die prekäre Künstlerexistenz, um seines eigenen Glückes Schmied zu werden: „Gib deinem Erfolg ein Zuhause!“

Es ist eine ziemlich freie Adaption der Grimm’schen Märchen und Lebensgeschichte, die Regisseur Simon Solberg betreibt. Sein vierteiliger „Grimm-Code“, „ungeprobt und ungeschnitten“, beendet die letzte Spielzeit der Schmidtstraße12 – einer Nebenspielstätte des Schauspiels Frankfurt, die 2003 von Armin Petras begründet wurde, damit sich junge Talente erproben können. Im Fall von Simon Solberg hat das ziemlich gut geklappt. Der 29-Jährige hat hier 2007 Kleists „Familie Schroffenstein“ inszeniert, als Material- und Körperschlacht mit Perkussionisten und Kampfkünstlern. Noch im selben Jahr folgte „Don Quijote“, das zum Festival „radikal jung“ am Volkstheater München eingeladen und dort mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Nach zwei Jahren als Hausregisseur am Nationaltheater Mannheim ist er nun frei unterwegs, unter anderem inszeniert er am Maxim Gorki Theater Berlin und am Münchner Volkstheater.

Studiert hat Simon Solberg Schauspiel an der Essener Folkwang-Schule, aber sein Ziel war schon immer die Regie. Das verfolgte er recht energisch. 2004 kam er als Regieassistent zum Schauspiel Frankfurt, mit einer Reihe von Konzepten in der Tasche – und war tief enttäuscht zu hören, dass eigene Inszenierungen von Assistenten in ihrem ersten Jahr nicht üblich waren.

Denn Solberg ist ein Macher, mit wachem Blick unter der Schirmmütze, einer, der geradeaus redet und im Theater etwas über die Welt herausfinden will, in der er lebt: „Wir haben als subventionierte Institution einen Forschungsauftrag, uns erstens während der Probenzeit ernsthaft auf die Suche zu machen nach dem, was uns in der Gesellschaft stört und was uns Angst macht oder traurig. Und zweitens Utopien zu entwickeln, wie man was verändern kann. Dabei kann es auch mal ganz platte Statements geben, wie zum Beispiel eine Alternative im kreativen Umgang mit Müll zu sehen, weil man im Probenprozess eben bis zu diesen Erfahrungen gekommen ist.“

Anstelle auf Nummer sicher zu gehen, möchte er lieber mal Halbwahrheiten raushauen und beim nächsten Stück weiterforschen. Häufig inszeniert er Klassiker, nur um sie während des Probenprozesses gründlich mit eigenen Assoziationen, Filmzitaten und Recherchematerial zu überschreiben. Da wird etwa Don Quijote zum Revolutionsstifter, der Sancho Pansa im Supermarkt aufgreift, um gegen die Frankfurter Bankentürme in die Schlacht zu ziehen – ein ebenso charmanter wie folgenloser Angriff auf den Kapitalismus: „Man braucht solche Spinner wie Don Quijote, um Menschen an der Basis wie Sancho Pansa, also die Massen zu mobilisieren.“ Wofür zu mobilisieren? „Na, Revolution! Den Kapitalismus abschaffen, vor allem den Kapitalismus in den Köpfen. Ich erwische mich selbst jeden Tag dabei, auf den ganzen Kapitalismus-Dreck reinzufallen.“ So versucht er dem eigenen Unbehagen und der eigenen Prägung auf die Spur zu kommen – und der Frage, die ihn „verrückt macht“: „Warum handelt man wider besseres Wissens, die ganze Zeit?“

Antworten geben seine Inszenierungen nicht, vielmehr durchforsten sie das Heute nach Geschichten und betreiben mit direkten Mitteln Gegenwarts- und Medienkritik, um immer wieder eine gute Dosis Komödie einzustreuen. Solberg entwickelt auf der Bühne ein furioses Spiel der Verwandlungen, bei dem die Schauspieler mit fliegenden Perückenwechseln diverse Rollen spielen. Im „Grimm-Code“, der heute Abend mit dem 3. Teil aufwartet, gibt etwa Stefko Hanushevsky den Klapperstorch und das schlummernde Dornröschen, während Sebastian Schindegger zur bösartigen Hecke wird oder sich als Küchenjunge verdiente Ohrfeigen einfängt.

Im zuweilen überbordenden Spiel schanzen sie sich kongenial die Pointen zu. „Ich halte mich an die alte Clownsregel ‚first make them laugh‘ “, erzählt Solberg, „und dann kannst du dem Publikum auch den Boden unter den Füßen wegziehen.“ Obgleich seine Gegenwartskritik eher unscharf bleibt: Solberg geht es um alles oder nichts, mit High- und Lowtech, Hochkultur und Straßenkunst, um die großen Fragen des Lebens und die eigene Wurstigkeit. Jawohl. Das mit der Wurstigkeit ist ihm wichtig: „Es ist auch eine Art Utopie, bei allem Ernst der Lage, über sich selbst, die eigene Hilflosigkeit und Wurstigkeit, die unterm Strich ja jeder von uns hat, lachen zu können.“ So reitet er mit hartnäckigem Fragen, höherer Clownerie und Selbstironie an gegen die Windmühlen der Gegenwart.

■ „Der Grimm-Code“. Ein urbaner Märchenthriller von Simon Solberg in vier Teilen frei nach den Brüdern Grimm. 3. Teil: 6. Mai, 4. Teil: 13. Mai, Frankfurt am Main, Schmidtstr. 12