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: Wärmen am Sozialneid

Das fällt den Sozialdemokraten ja früh ein. Kaum ist ihr Reformpaket endgültig abgenickt, da ziehen führende Genossen in den Sonntagszeitungen gegen die Besserverdienenden zu Felde. Dem Bundeskanzler mundet der morgendliche Jogurt nicht mehr, seit Molkereikönig Müller steuersparend in der Schweiz logiert, und Parlamentspräsident Thierse erregt sich öffentlich über die „obszöne“ Entlohnung der Wirtschaftskapitäne.

KOMMENTARVON RALPH BOLLMANN

Auf diese Weise will Rot-Grün die soziale Balance, die beim Reformpoker zu kurz kam, wenigstens verbal wieder herstellen – und zwar pünktlich zu den Feiertagen. Damit sich jene Durchschnittsverdiener, die demnächst die größten Einschnitte zu gewärtigen haben, unterm Weihnachtsbaum wenigstens am Sozialneid wärmen können. Wirkungsvoller wäre es freilich, wenn sich Schröder zwischen den Jahren endlich ein paar Gedanken über eine langfristige Reformperspektive machte – über die grundsätzliche Frage also, wie in den Zeiten von demographischer Veränderung, globalisierter Wirtschaft und flexibler Arbeitswelt soziale Gerechtigkeit zu definieren und vor allem auch praktisch umzusetzen ist.

Antworten auf diese Frage ist Rot-Grün, ist vor allem die SPD im abgelaufenen Jahr schuldig geblieben. Ohne eigene Ideen hat sich der Kanzler zum Getriebenen der Wirtschaftsverbände gemacht, die es ihm schlecht danken – und jeden vollbrachten Reformschritt mit radikaleren Vorschlägen überbieten. Obendrein hat sich Schröder den Zorn der großen Wählermehrheit zugezogen. Es ist zwar richtig, dass allein bei der Masse der Normalverdiener das nötige Kleingeld zu holen ist, das den Sozialsystemen fehlt. Aber das ist schwer zu vermitteln, solange der Debatte über den Abbau keine Debatte über neue Chancen folgt, solange für die Zukunft nichts bleibt als die vage Hoffnung auf den nächsten Aufschwung.

Im Übrigen könnte der Kanzler leicht Abhilfe schaffen, wenn er sich über die Steuerflucht von Müller, Schumacher & Co. wirklich so erregt. Er müsste nur dem grünen Vorschlag folgen, die Steuerpflicht ans Bürgerrecht zu knüpfen. Wer seinen deutschen Pass behalten will, bliebe auch in Monaco oder der Schweiz dem hiesigen Fiskus verbunden. Dieses System praktizieren die USA seit eh und je, und die Doppelbesteuerungsabkommen sind schnell geändert. Aber noch vor zwei Monaten stellte sich Schröder bei diesem Vorschlag taub.

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