Kampfzone Europa

Die Islamisten wollen die Diktatoren im Nahen Osten stürzen – und die Neokonservativen wollen die Demokratie nach Nahost exportieren. Wie das zusammenpasst, zeigt eine brillante Analyse des französischen Politologen Gilles Kepel

VON EBERHARD SEIDEL

Der französische Politikwissenschaftler Gilles Kepel zählt zu den international renommiertesten Islamismusexperten. Bereits Mitte der Neunzigerjahre beschrieb er hellsichtig, wie der Islamismus zum integralen Bestandteil Europas wurde. Hätte die europäische Öffentlichkeit schon damals politische Schlussfolgerungen aus Kepels Analysen gezogen, sie wäre besser auf die aktuellen Herausforderungen vorbereitet gewesen.

Kepels zentrale These lautet: Bis Anfang der Neunzigerjahre haben islamistische Gruppen Europa nicht als Gebiet des Islam (Dar al-Islam) betrachtet. Für die traditionellen muslimischen Theologen gehörte Europa im Gesamtbereich der Gottlosen (Dar al-Kufr) zu einem Gebiet des vertraglichen Friedens (Dar al-Ahd), wo die Muslime es nicht zu einem offenen Konflikt mit der gottlosen Umgebung kommen ließen; im Gegensatz zu den Gebieten des Krieges (Dar al-Harb), wo Dschihad erlaubt ist. Europa war heiliges Gebiet, ein Zufluchtsort für alle in ihren Ursprungsländern verfolgten radikalislamistischen Gruppen wie die Hisbollah, die Hamas, die algerische FIS, die Muslimbrüder und den Kalifatsstaat, denen Europa allzu willig Asyl bot. Diese Gruppen vermieden daher jeden Konflikt, der sie in Schwierigkeiten mit den europäischen Behörden gebracht hätte. Das hat sich in den Neunzigerjahren geändert.

Europa wird nun als Dar al-Islam betrachtet, in dem man nach den Regeln der Scharia leben können muss. Der Islamismus hat sich längst in die sozialen Brennpunktgebiete europäischer Städte mit einem hohen Anteil an Muslimen eingeschlichen. Unterstützt wird dieser Prozess durch das Internet. Ziel ist es, islamisierte Räume zu schaffen, in denen eine vom Islam bestimmte moralische Ordnung gilt. In diesen Kontext sind die Kopftuchdebatten ebenso einzuordnen wie die Anschläge in Madrid und die Ermordung Theo van Goghs.

Eine zweite These Kepels, die er 2001 im „Schwarzbuch des Dschihad“ veröffentlichte, lautet: Der Islamismus als politische Bewegung hat seinen Zenit bereits in den Neunzigerjahren überschritten. In seiner neuesten Studie, „Die neuen Kreuzzüge – Die arabische Welt und die Zukunft des Westens“, hält Kepel im Wesentlichen an seinen alten Thesen fest, unterzieht sie allerdings vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen einer strengen Prüfung. Es bereitet Freude, den komplexen Gedankengängen Kepels zu folgen; wie er die Interdependenzen zwischen dem Scheitern des Friedens von Oslo, der neokonservativen Revolution in den Vereinigten Staaten und dem Auftauchen der terroristischen Dschihadisten in den Neunzigerjahren als Reaktion des islamistischen Scheiterns in Nordafrika und dem Mittleren Osten aufzeigt.

Sowohl die Dschihadisten als auch die Neokonservativen der USA hätten sich, so Kepel, den Nahen und Mittleren Osten zum exemplarischen Kampfplatz erkoren, auf dem die Zukunft einer neuen Weltordnung entschieden werden soll. Beide Akteure verfügen über ein geschlossenes ideologisches Konzept mit universalistischem Anspruch, und beide glauben, dass der Zeitpunkt der Umsetzung jetzt gekommen sei.

Weit entfernt von einer Verschwörungstheorie à la Michael Moore, vollzieht Kepel nach, wie die neokonservative Denkschule in den USA einen so maßgeblichen Einfluss auf die derzeitige US-Regierung gewinnen konnte. Zu deren Doktrin gehört die Strategie des Totrüstens und der damit einhergehenden totalen militärischen Überlegenheit. Sie wurde von dem Militärexperten Albert Wohlstetter bezüglich der Sowjetunion entwickelte und von Präsident Reagan realisiert.

Nach 1989 haben die Neokonservativen ihre antikommunistische Strategie auf den Islamismus übertragen. Für Kepel war dies der entscheidende strategische Fehler, der letztlich auch zum militärischen Desaster im Irak führen musste. Denn anders als die kommunistische Bewegung der Vergangenheit mit ihrem militärischen und ideologischen Zentrum in der Sowjetunion hat der in den Neunzigerjahren entstandene radikalislamistische Terrorismus, der heute unter dem Begriff al-Qaida gefasst wird, kein Zentrum, das mit Bomben und militärischer Überlegenheit zu beeindrucken wäre. Folgerichtig hat weder der Krieg in Afghanistan noch der im Irak das weltweite Terrornetzwerk geschwächt – im Gegenteil: Längst sind die Kampfeinheiten in Paris, London und Berlin „stationiert“ und verabreden über das Internet die nächsten Aktionen.

Der neokonservativen Fehleinschätzung setzt Kepel seine Analyse der Strategien der radikalislamistischen Bewegung entgegen. Nachdem die Islamisten in den Achtzigerjahren mit ihren Versuchen, islamistische Regime zu errichten, gescheitert sind, vollzogen sie in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre einen Strategiewechsel. Wenn der nahe Feind nicht geschlagen werden kann, weil die USA und der Westen die Regime in der arabischen Welt stützen, so das Kalkül, dann ist dieser ferne Feind anzugreifen, damit der Westen seine Unterstützung aufgibt. Anschließend, so die Perspektive, ist die Errichtung islamistischer Gottesstaaten im Nahen und Mittleren Osten leichter möglich.

Europa und die USA stehen in dieser Phase des Dschihad im Fokus der radikalen Islamisten. Die Kampfzone reicht von der South Side in Chicago über den Norden von Paris und „Londonistan“ (Kepel) bis nach Berlin-Kreuzberg. Die sozial desintegrierten Einwandererviertel des Westens sind ideales Rekrutierungsfeld für Dschihadisten und Selbstmordattentäter und Orte weitreichender ideologischer Auseinandersetzungen. Denn neben den diversen Kopftuchaffären ist die von Islamisten infrage gestellte Gleichheit von Mann und Frau eines der Hauptthemen der „Schlacht um Europa“, wie Kepel die Auseinandersetzung nennt.

Trotz des Ernstes der Lage verfällt Kepel nicht in Pessimismus, sondern bemerkt durchaus treffend, dass der Islamismus auch in Europa bislang keine Mehrheiten unter den Muslimen für sich mobilisieren konnte. Wie die terroristische Bedrohung künftig überwunden werden kann, hängt für den Wissenschaftler entscheidend von den Muslimen, die im Westen leben, ab. Hierher, so hofft Kepel, werden die islamischen Denker mit universeller Berufung kommen, die die Muslime weltweit aus der engen theologischen Bevormundung führen und die Religion mit der Moderne versöhnen.

Eine langfristige Befriedung wird sicherlich nicht ohne diese Emanzipationsprozesse auskommen. Für die aktuelle Bekämpfung weltweit operierender radikalislamistischer Terroristen hat Kepel bei aller Brillanz der Analyse jedoch wenig zu bieten.

Gilles Kepel: „Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens“. Aus dem Französischen von Bertold Galli, Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Piper Verlag, München 2004, 368 Seiten, 22,90 Euro