Ein schwerer Abschied

Es ist die Horrorvision einer jeden Schwangeren, dass ihr Kind kurz nach der Geburt oder sogar noch im Mutterleib stirbt. Auch die Entbindungsstationen haben sich lange schwer getan, sich auf die besonderen Probleme, die Entscheidungsnöte und den lange währenden Schmerz der Eltern tot geborener Kinder einzustellen

VON JULIANE GRINGER

Als sie am 29. Mai aus der Kaiserschnitt-OP erwachte, die ihren vierten Sohn ins Leben hatte bringen sollen, war es bedrückend still. Die Notoperation war erst nach quälendem Hin und Her vorgenommen worden, die Angst steckte Annekatrin Meißner noch in den Knochen. Über sie gebeugt stand ihr Lebensgefährte Dirk. Eindringlich flüsterte er: „Malte hat es nicht geschafft.“

Malte war tot geboren worden – still geboren sagt man auch, weil der unter den Geburtsschmerzen so sehr ersehnte erste Schrei ausbleibt. Der kleine Junge war zu schwach; woran genau er starb, konnten die Ärzte nicht feststellen. Die Tage vor der Geburt waren schwierig gewesen, die ganze Schwangerschaft über hatte Annekatrin Meißner mit Komplikationen zu kämpfen gehabt. Blutungen, derentwegen sie die ersten vier Monate fast nur liegen durfte, machten ihr zu schaffen. Sie bekam Familienpflege, fuhr drei Wochen zur Kur für schwangere Mütter. Dort wurden die dicken Bäuche bunt bemalt. „Ich hatte schon die ganzen Monate über ein komisches Gefühl“, erinnert sich die 29-Jährige, „habe kaum Babysachen gekauft, das Zimmer nicht vorbereitet. Ich habe wohl etwas geahnt. Aber ich habe Malte auch unendlich geliebt.“

Etwa vier von tausend Babys über 1.500 Gramm werden in Deutschland tot geboren. Diese Kinder reißen eine Wunde, die kaum mehr heilen will. Durch den dicker werdenden Bauch, tretende Füßchen und präzise Ultraschallbilder waren sie für Vater und Mutter schon sehr genau vorstellbar, greifbar fast. Die Eltern trauern deshalb stark und lange, auch wenn die Schwangerschaft noch nicht weit fortgeschritten gewesen sein mag.

Schwangerschaften sind planbar geworden, Ärzte können vieles möglich machen. Die Geburt eines Kindes wird deshalb heute zu einem Projekt gemacht, dessen Misslingen kaum einkalkuliert ist. Scheitert eine Schwangerschaft doch, macht das Angst. Stirbt ein Kind, so ist das lähmend genug; stirbt es, bevor sein Leben richtig begonnen hat, kommen noch mehr Hilflosigkeit und Berührungsängste hinzu. Bei den Eltern selbst, bei Klinikpersonal, Ärzten, Hebammen, Familie, Freunden. Dazu die körperlichen Schmerzen bei der Geburt des toten Babys, die Trauer und schlicht organisatorische Aufgaben: Wie soll das Kind beerdigt werden?

Die Ursachen dafür, dass ein Baby im Mutterleib stirbt, können unterschiedlich sein. Die Babys haben Fehlbildungen oder sterben an Infektionen. Mehrlingsgeburten, Übergewicht sowie Untergewicht und vor allem Rauchen sind Risikofaktoren. Oft bleibt die Todesursache auch ungeklärt, selbst eine Obduktion bringt dann kein Ergebnis. Es scheint schon im Mutterleib so etwas wie den plötzlichen Kindstod zu geben.

Matthias Wiemann, Leitender Oberarzt der Geburtshilfe des Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, nennt die stille Geburt „in der Regel schicksalhaft“. Und: „Sie ist in allen Wochen möglich.“ Etwa die Hälfte aller Schwangerschaften gingen nicht gut aus, so der anthroposophisch geschulte Arzt, die meisten davon so gut wie unbemerkt schon in den ersten Wochen. Auch eine verspätete Regelblutung kann Indiz für eine missglückte Schwangerschaft sein.

Je mehr Zeit verstrichen ist, desto geringer ist die Gefahr, das Baby noch zu verlieren. Aber es gibt Kinder, die erst zum Geburtstermin oder einige Tage davor im Körper der Mutter versterben. Wiemann und seine Kollegen und Kolleginnen versuchen, den betroffenen Familien mit viel Sorgfalt zu begegnen. „Man muss gründlich und sensibel darüber aufklären, wie man die Geburt begehen und das Kind verabschieden kann“, so der Mediziner.

Denn die Frauen selbst sind kaum auf diesen Ausnahmezustand vorbereitet. In den gynäkologischen Praxen wird bei der Vorsorge selten darüber gesprochen, selbst für Hebammen wurde das Thema stille Geburt erst vor zwei Jahren in den Ausbildungsstoff aufgenommen. Die Diagnose, dass das Kind im Mutterleib gestorben ist, kommt für die Schwangere oft völlig unerwartet. Vielleicht war es eine normale Vorsorgeuntersuchung, vielleicht ist die Mutter unsicher geworden, weil das Baby sich nicht mehr bewegte und ging zu ihrer Gynäkologin. Wenn die dann vergeblich versucht, Herztöne des Babys aufzuspüren, ist der Schrecken immens. Viele der Frauen stehen unter Schock, waren weder darauf gefasst, dass so etwas geschehen kann, noch darauf, dass sie dieses Kind nun auf natürlichem Weg gebären müssen.

Diese natürliche stille Geburt ist ein einziger Schmerz. Der Körper will gerade in den frühen Phasen der Schwangerschaft das Baby schützen. Kommen die Wehen nicht selbst, muss die Geburt mit Medikamenten künstlich eingeleitet werden. Auch das Gewebe der Schwangeren ist auf eine Geburt meist noch nicht vorbereitet, und den Frauen fehlt die Aussicht auf eine glückliche Geburt, die ihnen Kraft geben würde.

„Die Frauen bekommen alles, was wir bei anderen Geburten auch anbieten“, sagt Matthias Wiemann. „Was den Paaren wirklich hilft, ist Normalität“, bestätigt Jutta Bartholomé von der Initiative Regenbogen „Glücklose Schwangerschaft e. V.“, die sich um verwaiste Eltern sorgt. Oft werde überstürzt entschieden, die Geburt schnell einzuleiten. „Doch solange die Frau keiner lebensbedrohlichen Situation ausgeliefert ist – das ist sie in den meisten Fällen nicht –, bleibt noch Zeit“, so die ehemalige Hebamme. „Genug Zeit, um in Ruhe eine Entscheidung zu treffen.“ Diese Entscheidung kann sein, die Geburt bald einzuleiten. Oder auch das Kind noch einige Zeit weiterzutragen.

Ein stark behindertes Kind, auch wenn es geboren nicht lebensfähig wäre, ist im Bauch der Mutter noch lebendig. Dort wird es ernährt, es geht ihm gut. Wenn die Zeit der Schwangerschaft die einzige Zeit bleiben soll, in der die Mutter ihr Baby erleben und fühlen darf, so bietet das Warten ihr die Chance, dieses Kind noch ein Stück zu begleiten. Auch wenn das Baby schon verstorben ist, bleibt in den meisten Fällen Bedenkzeit. Erfahrungsgemäß dauert es mindestens drei bis vier Wochen, bis der Mutter Komplikationen durch das tote Kind drohen. Eine Vergiftung – wie von vielen Frauen gefürchtet – ist in dieser Zeit ausgeschlossen.

Die Schwangere sollte bewusst entscheiden, wie sie die Geburt gestalten und erleben möchte, ob und wie sie, ihr Partner und die Familie Abschied nehmen. Und gerade weil diese Entscheidungen schwer fallen, aber prägend dafür sind, wie die Familie das Unglück verarbeiten kann, braucht sie Unterstützung.

In den Krankenhäusern ist die Betreuung sehr unterschiedlich. Immer mehr nehmen sich bewusst des Themas an, schulen ihr Personal, bereiten sich darauf vor, dass es solche Geburten gibt. Es gibt aber auch Kliniken, in denen die Eltern abweisend behandelt und nicht bestattungspflichtige Babys mit weniger als fünfhundert Gramm Gewicht einfach über den so genannten ethischen Abfall entsorgt werden.

Darüber, wie sie im Krankenhaus behandelt wurde, ist auch Annekatrin Meißner enttäuscht. Die Ärzte gaben keine Erklärungen, halfen nicht beim Abschiednehmen. „Dass man sein Kind noch sehen darf, hat mir erst meine Hebamme sagen müssen“, beklagt sie.

Vielen hilft es, ihr Baby zu verabschieden, indem sie es anschauen, anfassen, auf den Arm nehmen, es vielleicht noch anziehen und bewusst gehen lassen. Zwar fällt vielen Frauen zuerst die Vorstellung schwer, das Baby überhaupt noch einmal sehen zu müssen. Denn mit der Diagnose bekommen sie Angst, dass ihr Kind entstellt sein könnte. „Aber die Babys sind perfekt“, sagt Christine Thiel, Hebamme am Krankenhaus Havelhöhe. Auch wenn der Tod schon etwas zurückliegt und sich beispielsweise die Haut bereits auflöst oder Körperflüssigkeit austritt, sind die Eltern meist glücklich darüber, ihr Kind gesehen zu haben. Starke Fehlbildungen betreffen meist innere Organe und sind äußerlich nicht bemerkbar.

„Die allermeisten Paare entscheiden sich dafür, Abschied zu nehmen, auch wenn sie Zeit brauchen“, sagt Christine Thiel. „Wir lassen das Kind im Zimmer oder betten es an einer anderen Stelle kühl, bis die Eltern für sich einen Weg gefunden haben. Und selbst wenn sie erst nach einer Woche ein ungutes Gefühl bekommen und das Baby noch sehen wollen, gibt es diese Möglichkeit“, so Thiel. „In dieser Situation sind die Eltern so ungeschützt und stehen so vielen Entscheidungen gegenüber, dass sie auf Hilfen einfach angewiesen sind. Und es verstreicht wertvolle Zeit, in der sie Erinnerungen an ihr Baby sammeln können.“ Dazu gehört auch, dass Fotos gemacht werden, vom Kind allein oder in den Armen von Mutter und Vater, eine Locke abgeschnitten wird oder Abdrücke der kleinen Hände und Füße gemacht werden. All das bekommen die verwaisten Eltern in einer Mappe zusammen mit Informationsmaterial zu weiteren Anlaufstellen mit nach Hause.

Man kann nur loslassen, was man einmal gehabt hat“, sagt Gabriele Weiß, Seelsorgerin der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung in Berlin-Pankow. Für den schwierigen Abschied von einem toten Kind sei das Zusammenwirken aller Begleiter unerlässlich. „Ihre Arbeit beruht auf Respekt vor der Trauer der Betroffenen und Ehrfurcht vor dem Leben, egal wie alt es werden durfte.“

Rituale, so die Seelsorgerin, geben Halt und würdigen das kurze Leben des Kindes im Mutterleib. Zudem ermutige ein solcher Abschied auch dazu, dem Kind einen dauerhaften Platz in der Familiengeschichte zu geben. „Eine Kerze, ein Segen für das Baby öffnen die Sicht dafür, dass Leben nicht planbar und nicht verfügbar ist.“ Frau Weiß unterstützt die Eltern darin, eigene Entscheidungen zu treffen. „Behutsame Begleiter fragen die Eltern, was ihnen helfen kann. Ernst genommen zu werden ist für die Eltern der größte Trost.“ Besonders der Vater brauche Einfühlung. „Er leidet meist sehr unter dem Gefühl der Hilflosigkeit.“

Hebamme Christine Thiel beschreibt, dass viele Väter „wie versteinert“ neben ihren Frauen am Bett verharren. Die Frauen können ihre seelische Qual unter den Geburtsschmerzen zumindest ein wenig herauslassen. Die Männer müssen andere Wege finden, dieses Schicksal zu verarbeiten. Auch für Geschwister ist der Umgang mit dem Tod eines Babys schwierig. Das neue Familienmitglied, das sie erwartet haben, wird nun nicht ankommen. Auch ihnen kann es helfen, Abschied zu nehmen, genauso wie Großeltern, Tanten, Onkeln oder anderen Verwandten.

Mit dem Abschied beginnt die Trauer. Den Tod des Kindes zu begreifen und damit umzugehen fällt vielen Müttern unendlich schwer. Annekatrin Meißner sagt, ihre „normalen“ Freundschaften mit denen, die kein Kind verloren haben, lägen alle auf Eis. Sie kann es nicht mehr ertragen, wenn sie mit ihren Erinnerungen an Malte abgewiesen wird, wenn sie merkt, dass ihr Gegenüber nicht mehr zuhören mag. Stattdessen hat sie Freundschaften gefunden in Begegnungen mit anderen betroffenen Eltern. „Da ist eine ganz andere Basis“, sagt sie. „Wir können zusammen heulen und frei über das sprechen, was passiert ist.“

Kennen gelernt hat sie viele verwaiste Eltern über die Initiative Regenbogen und deren Kontaktkreis für Eltern, die ihre Kinder während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt verloren haben. Der Verein bietet auch an, weitere Schwangerschaften zu begleiten, und versucht, Klinikpersonal und Seelsorger auf die Arbeit mit frisch verwaisten Eltern vorzubereiten. In vielen Punkten leistete Regenbogen Pionierarbeit. 1983 gegründet, war er die erste derartige Selbsthilfe-Initiative und gab schon 1986 einen Wunschzettel an Kliniken heraus, der dringend darum bat, betroffenen Eltern ihr totes Kind nicht vorzuenthalten, sie es sehen und anfassen und ihnen ein Foto machen zu lassen. Mehrere Petitionen stammen aus der Feder des Vereins. Eine von ihnen erwirkte, dass 1994 die Grenze von tausend Gramm auf fünfhundert Gramm herabgesetzt wurde, damit auch Totgeburten über diesem Gewicht bestattungspflichtig sind.

Auch viele Grabfelder für fehl- und totgeborene Kinder sind der Initiative Regenbogen zu verdanken. Die meisten Krankenhäuser haben sich zusammengeschlossen, beerdigen die in ihren Einrichtungen tot zur Welt gekommen Kinder, egal wie jung und leicht sie waren, anonym. Dann gibt es alle paar Monate eine Sammelbestattung. In einem großen Sarg werden verschieden große Fächer abgeteilt. In jedes Fach kommt eins der toten Babys. Dass die Kinder so über den Tod hinaus nicht allein sind, sondern mit anderen verstorbenen Babys begraben werden, ist für viele Familien ein Trost. Die Eltern können aber auch entscheiden, ihr Kind auf eigene Kosten begraben zu lassen.

Der erste Blick auf eine solche Abteilung auf dem Friedhof lässt die Augen flimmern. Beklemmend bunt leuchtet es von den Kindergräbern. Windmühlen stecken in der Erde, alle Grabstellen scheinen überfrachtet mit Figuren, kleinen Engeln, Puppen und Plüschtieren. Namensschilder, Briefe, frische Blumen kommen dazu. Eins der Gräber verschwindet fast unter Mitbringseln der Familie des verstorbenen Kindes.

Was befremdlich und auf bizarre Weise kitschig scheint, ist für die Eltern ein Ventil. Für die Fürsorge, die ihrem Kind zugedacht war und die sie nun fast zerbrechen lässt. Am Anfang, kurz nach der Geburt, sei sie täglich zum Friedhof gefahren, erinnert sich Annekatrin Meißner. Fast immer hatte sie Kleinigkeiten für Maltes Grab mitgebracht. „Ich wollte etwas für ihn tun, ihm nah sein“, erklärt sie. „Ich hätte ihn so gerne bei mir. Es klingt furchtbar, aber manchmal hatte ich das Gefühl, ich wollte auf den Friedhof fahren, ihn ausbuddeln und mit nach Hause nehmen. Ich hätte den Sarg natürlich nicht aufgemacht, ich wollte ihn nur bei mir haben.“

Trauern dürfen die Eltern meist nicht lange. Schnell erwarten Familie, Freunde und Kollegen, dass sich die Mütter und Väter „langsam mal wieder einkriegen“. Es habe doch gar nicht richtig gelebt, das Kind, die Eltern könnten doch noch andere Babys bekommen. Auch Annekatrin Meißner fühlt sich von ihrem Umfeld wenig verstanden: „Meine Familie findet, dass ich zu sehr an Malte hänge.“

In Internetforen vertrauen sich betroffene Frauen die Berichte vom Tod ihrer Kinder und ihre Traurigkeit an. Sternenkinder oder Traumkinder werden die still geborenen Babys da genannt. Die verwaisten Mütter unterschreiben ihre E-Mails mit ihrem Namen und dem Namen ihrer Kinder „als Engel im Herzen“. Einige von ihnen haben schon mehrere Fehlgeburten erlebt, oder sie sind verzweifelt, weil sie schon älter sind und es immer schwieriger wird, noch Kinder zu bekommen.

Annekatrin Meißner meint, sie habe sich in ihrem Leben noch nie wirklich mit dem Sterben auseinander setzen müssen. Jetzt stelle der Tod des Sohnes für sie alles infrage. „Ich habe so einen starken Verlust noch nie erlebt“, sagt sie. Sie lässt ihre Trauer zu, geht regelmäßig zum Friedhof, sucht das Gespräch mit Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe und hat etliche Bücher zum Thema gelesen. Sie hat sich auch durch medizinische Fachtexte gekämpft, recherchiert und Informationen gesucht, um genau zu verstehen, was mit Malte passiert ist. Nicht nur sein Tod macht ihr zu schaffen, sie vermutet auch, dass er zu verhindern gewesen wäre, dass die Ärzte zu lange gewartet haben.

An einem Donnerstag im Mai, gute sechs Wochen vor dem Geburtstermin im Juni, hatte sich der kleine Malte in Annekatrin Meißners Bauch plötzlich nicht mehr bewegt. Er hatte eine leichte Lungenentzündung, war etwas geschwächt. Die junge Mutter bekam Angst. Ihre Hebamme versuchte, sie zu beruhigen, trotzdem fuhr sie mit einer Freundin ins Krankenhaus. Die Werte des CTG, das die Herztöne des Babys misst, waren nicht gut, aber die Schwangere konnte wieder nach Hause gehen. Am nächsten Tag fuhr sie in eine größere Klinik, die Ärzte machten die gleiche Untersuchung. Wehen waren zu erkennen, sie wurde aber erneut fortgeschickt und sollte erst wiederkommen, wenn die Wehen deutlich stärker würden. „Das waren sie natürlich, kurz nachdem wir aus dem Krankenhaus raus waren.“ Mit der Hebamme fährt sie in ein drittes Krankenhaus.

„Nach ein paar Messungen schrie die Ärztin dort plötzlich auf, man müsse einen Notkaiserschnitt machen. Maltes Herztöne waren plötzlich weg.“ Aus eigener Kraft klettert die Hochschwangere auf den OP-Tisch. „Dann waren die Herztöne wieder zu hören, und an das Thema Kaiserschnitt war nicht mehr zu denken. Die Ärzte wollten alles versuchen, damit ich natürlich gebären könnte.“ Annekatrin Meißner aber hatte Angst, ihre Fruchtblase sei geplatzt. „Das Fruchtwasser roch streng, ich habe um einen Kaiserschnitt gebettelt, aber niemand hat auf mich gehört.“

Das CTG zeigt wieder einen hohen Puls, während auf Blutwertergebnisse gewartet wird. Das Herz des Babys scheint kräftig zu schlagen. Doch es sind längst die Herztöne der Mutter, die da aufgezeichnet werden. Das Messgerät ist falsch angeschlossen. „Die wehenhemmenden Mittel hatten meinen Herzschlag hochgetrieben, nicht den von Malte“, sagt Annekatrin Meißner. Erst auf dem Ultraschall sehen die Ärzte, dass Maltes Puls nur noch bei etwa zwanzig liegt. Es wird doch operiert.

Ja, ihr Sohn könnte noch leben, hat einer der Ärzte ihr gesagt. Deshalb will Annekatrin Meißner klagen. Die Anzeige aber, schon fünf Seiten lang, wird nicht fertig. „Auf dem Papier klingt alles so sachlich, ich will nicht, dass es vor Gericht zerredet wird.“

Wann immer sie jemandem von ihm erzählt, zeigt Frau Meißner Fotos von ihrem Sohn. Sie hat ein Album dabei. Darin sieht man erst ein perfektes kleines Baby mit rosiger Haut, die Nabelschnur gerade frisch abgeklemmt. Es scheint, als würde es nur schlafen. Die Hebamme hat das Bild gleich nach der Geburt von Malte gemacht. Kurz nach seinem Tod. Am nächsten Tag haben die Mutter und der Vater das Baby auch kurz gesehen. Ebenfalls auf Initiative der Hebamme hin wurde es, eingepackt in ein weiches Bündel, zu den Eltern ins Zimmer getragen.

Annekatrin Meißner hat es nicht geschafft, den Kleinen selbst zu halten. Auf den nächsten Fotos sieht er bereits etwas blau aus im Gesicht, starr und leblos. Dann Bilder von der Beerdigung; in einem blauen Sarg mit Sternen ist der Kleine aufgebahrt, die Lippen schon dunkellila verfärbt. Der Weg zum Grab. Das Grab selbst. Es hat noch keinen Stein, der soll bald kommen, mit einem Bild darauf, „damit jeder Malte sehen kann“. Er sollte das letzte Geschwisterchen für die drei anderen Kinder der Familie sein. Das erste gemeinsame Kind mit dem neuen Lebensgefährten sollte die Familie komplett machen.

„Nachdem das mit Malte passiert ist, denke ich manchmal, jetzt erst recht“, sagt Annekatrin Meißner. Sie ist wieder schwanger, gleich einige Monate nach Maltes Geburt fiel der Schwangerschaftstest positiv aus. Ein schwieriges Thema; auch ihr Freund wollte es erst nicht überstürzen. Er habe ein schlechtes Gewissen gegenüber Malte, hat er gesagt. Aber beide wissen, das „neue“ Baby soll ihn nie ersetzen.

Auf dem Friedhof, in der „Kinderabteilung“, gibt es auch Gräber, die lange nicht besucht wurden. Auf einem ist der Name des toten Kindes in Kieseln gelegt, ein anderes ist gar nicht mehr geschmückt. Die Trauer auch dieser Eltern wird nicht beendet sein. Trauer endet nie, man kann nur lernen, mit ihr zu leben.

JULIANE GRINGER, 23, studiert in Leipzig Journalistik und ist derzeit taz-Volontärin