Zeit für Kinder, Zeit fürs Amt

Die unvorhergesehenen Sonderschließzeiten der Kitas über Weihnachten werfen allgemeine Fragen auf: Wie familienfreundlich ist diese Stadt? Der Erfahrungsbericht einer allein erziehenden Mutter

VON ANNA LEHMANN

Immer wenn ich auf dem Weg zur Kinderkrippe eines dieser großformatigen Plakate sah, die „Mehr Zeit für Kinder“ fordern, würgte es mich. Heute weiß ich: Die meinen gar nicht mich. Die Kampagne richtet sich nicht an gering verdienende, schlecht situierte, langzeitarbeitende Mütter. Nein, sie fordert Leute zum Kinderkriegen auf, die sich das leisten können. Menschen, die selbst mit einem Halbtagsjob nicht auf Auto, Urlaub und Wohnung mit Balkon verzichten müssen. Menschen, die ihren Kindern etwas bieten können: Bio-Essen, gute Luft, eine gesicherte Zukunft und obendrein viel Zeit zum Spielen.

Wer nichts auf dem Konto hat, dessen Zeit ist auch nichts wert. Zwei Vormittage auf den Fluren der Kitakosteneinzugsstelle, drei Nachmittage auf dem Sozialamt, ein Tag auf dem Einwohnermeldeamt – hier werden die Stunden durchgebracht, als ob man den Wartenden dadurch die Zeit zum Kinderkriegen verkürzen könnte. Die kleinen Sozialfälle sind nicht willkommen, das flüstert die gelbe Tapete, grinst das kalte Neonlicht, verrät die Miene der ausgelaugten Sachbearbeiterin. Keine Bilder, die ein Kind fesseln könnten, kein Spielzeug, dass sich durch den Gang rollen ließe, laden Eltern ein, sich mit ihrem Nachwuchs in eine Einrichtung staatlicher Fürsorge zu begeben. Und trotzdem wird man ständig zum Wiederkommen aufgefordert – weil dieser Nachweis fehlt, weil jener unvollständig ist.

Die Kitakosteneinzugszentrale für Friedrichshain-Kreuzberg besuchte ich zweimal. Beim ersten Termin blättert die Dame hinter dem Sprelacarttisch misstrauisch in meinen Unterlagen, bis sie ihren Finger triumphierend in den Vertrag bohrt und jubelt: „Hier steht: Betreuungsbeginn ist der Dreißigste! Sie wollen Ihr Kind doch schon zwei Wochen eher in die Kita bringen.“ Ja, weil es sich eingewöhnen muss, entgegne ich. Ob sie das Datum nicht einfach ändern kann? Nein. Wozu gibt es denn das Verwaltungsrecht? Sie schickt mich zur zuständigen Stelle nach Hohenschönhausen. Kinderwagen und Straßenbahn – kein Problem für zwei muskulöse Arme. In Hohenschönhausen streicht man das Datum einfach durch und schreibt ein anderes daneben. Das hätte ich selbst machen können. Beim nächsten Mal weiß ich es besser – der erste Schritt zum Sozialbetrüger.

Die Eingewöhnungszeit in der Krippe war erfolgreich. Mein Kind kennt inzwischen alle Kinder aus der Sammelgruppe am Abend und das Gesicht fast aller Tanten. Die wechseln sich seit einigen Wochen mit den Gruppen ab. Morgens macht mal diese, mal jene Dienst, die anderen kommen später. Oder gar nicht – Freizeitausgleich nennt man das. Seit gestern sind alle Tanten im Urlaub, die Kita ist geschlossen. Anders als ich hat mein Kind jetzt zwei Wochen Ferien – und viel Zeit für mich.