Die Boutique für Konsumanarchisten

Geschenke? Kaufen? Geld? Ein Laden in der Brunnenstraße in Mitte kommt ohne Preise, Kasse und ohne Kunden aus. Der Umsonstladen in Berlin-Mitte bietet Dinge und Sachen für NutzerInnen an, die sich Gedanken über die kapitalistische Welt und den Geldfetisch gemacht haben

Wer den Umsonstladen aufsucht, hat nachgedacht über Konsumterror

von FELIX LEE

Günter hatte in den 60er-Jahren mal einen Salzstreuer, auf dem war John F. Kennedy abgebildet. Drehte man den Salzstreuer um, rieselte das Salz heraus, und zwar aus den Einschusslöchern. „Keine Erfindung vom KGB“, betont Günter. Der Salzstreuer war Made in U.S.A.

Solche und ähnliche Anekdoten fallen dem 60-Jährigen ein, wenn ihm Leute Sachen in den Laden vorbeibringen. So wie die junge Frau an diesem späten Dezembernachmittag, die einen ganz normalen Salzstreuer abzugeben hat. Günter vom Umsonstladen kennt viele Geschichten. „Wenn jemand reinkommt, kommt auch immer eine kleine Geschichte. Entweder erzählen sie die Geschichten oder einem selbst fällt sie ein.“

Genau das macht ihn aus, den Laden in der Brunnenstraße 183 in Berlin Mitte. Natürlich ist er auch dafür bekannt, dass dort alles gratis ist. Das allein ist kurios genug. Kurios – immerhin befindet sich dieser Laden in Mitte – ist auch die Innenausstattung: Eine Ecke mit Pappkartons und Büchern, zwei Regale voll zerbeulter Matchboxautos, Ikea-Stoffelchen und geschundener Plastikpuppen. Eine weitere Ecke mit Kochtöpfen und Geschirr aller Stilrichtungen. Auf der oberen Hälfte des Raumes ist eine Hochetage eingezogen – Marke Eigenbau, auf dem Computer stehen. Hier darf die Kundschaft kostenlos im Internet surfen. Und mittendrin, neben dem gekachelten Kohlenofen und unter dem Che-Guevara-Plakat, ein modrig riechendes Sofa aus den 50er-Jahren. In der Kleiderecke im Hinterraum sieht es noch am ehesten aus wie in einem Kreuzberger Second-Hand-Laden.

Zu jedem Topf oder Buch oder Spielzeugauto gibt es etwas zu sagen. Das unterscheidet den Umsonstladen von Karstadt, Wertheim oder den aussterbenden Hausratswarenläden, wo fabrikneue Waren verkauft werden – aber eben selten Geschichten. Der Umsonstladen ist keineswegs ein stationärer Flohmarktstand. Zwar finden sich auch beim Trödler Geschichten, wenn der in einem seiner Kartons zum Beispiel einen alten Teddybären findet und ein paar Kindheitserinnerungen oder Steiff-Produktinformationen von anno 1952 parat hat.

Anders als beim Trödler, nehmen sich die Kunden im Umsonstladen einfach Zeit, ihre Geschichten auch zu erzählen. Den Nutzerinnen und Nutzern, die hier vorbeikommen, oder den Umsonstlädlern Günter, Helmut und Jens. Alles gratis.

Nutzer, sagt Günter. – Das sind keine Käufer, auch keine Kunden. Nutzer – das sind Leute, die hierher kommen und bis zu drei Objekte kostenlos mitnehmen dürfen. Das ist eine der Regeln dort.

Oder es sind Leute, die hier Sachen abliefern. Sachen, die sie zwar nicht mehr gebrauchen können, andere vielleicht schon. Heile und nutzbar müssen sie sein. Das ist eine zweite Regel.

„Wir sind doch keine Müllkippe“, sagt Jens. Wer Möbelstücke oder andere sperrige Sachen zu verscherbeln hat, darf auf der Korkwand links neben dem gekachelten Ofen einen Zettel anpinnen. Regel Nummer drei. Hier an der Korkwand finden sich auch Inserate für Spanischkurse, Gitarrenunterricht und Capoeira-Gruppen. Kostenlos natürlich.

Viel mehr als diese drei Regeln gibt es nicht. Der Plausch gehört nicht zum Pflichtprogramm. Und trotzdem muss sich der eine oder andere Nutzer des Umsonstladens schon mal die Frage gefallen lassen: Brauchst du das wirklich?

„Wir wollen zeigen, wie absurd diese kapitalistische Wegwerfgesellschaft ist“, sagt Jens. „Von klein auf lernen wir: Es gibt nichts umsonst. Wir haben das alle schon so verinnerlicht.“ Der Laden hingegen lebt vom Geben und Nehmen. Im Umsonstladen kann jeder kommen, etwas abgeben und etwas mitnehmen. Er darf aber auch nur mitnehmen. Sonst wäre das ja ein Tauschladen. Das Konzept geht auf.

Nachschubmangel? Gibt es hier nur selten. Missbrauch? Noch seltener. Denn wer regelmäßig den Umsonstladen aufsucht, hat nachgedacht über Fragen wie Konsumterror und Geldfetisch. Hat Jens all das erläutert, ist aus dem Gespräch längst ein halber Vortrag geworden. Manchmal sogar mit anschließender Diskussion. „Wenn hier mehr als drei neue Leute gleichzeitig sind, wird’s richtig lustig“, erzählt Günter.

Er ist erst vor kurzem nach Berlin gezogen. Vorher war er Programmierer an der Hamburger Universität. Günter hat Diabetes. Finanziell lebt er von seiner Frührente, sozial vom Laden. „Wenn ich gewusst hätte, dass es hier so nett ist, wäre ich schon viel früher hergezogen.“ Seine Aufgabe: Stempeln.

Jedes Buch, das durch den Umsonstladen geschleust wird, erhält den Aufdruck: „Dieses Ding ist aus einem Umsonstladen. Es ist dem Wertkreislauf entzogen und somit unverkäuflich. Weitergabe nur gratis.“ Anfangs hatte er seine Bedenken, erzählt Günter. Ihm fehlte im Namen das Wort „sozial“. Inzwischen ist er ganz froh darüber. „Viele, die in die Sozialhilfe abgerutscht sind, haben Stolz. Deswegen meiden sie alles, wo sozial auch nur drauf steht.“

Der Umsonstladen möchte, dass alle kommen. Zu seinen Stammnutzern zählt inzwischen nicht nur die türkische Großfamilie aus Neukölln, sondern auch der Beamte vom Kulturamt zwei Ecken weiter. Und dann war da die finanzielle Seite: „Ohne Geld wird das nicht klappen“, glaubte Günter. Aber auch diesbezüglich hat er sich eines Besseren belehren lassen. Miete müssen die Umsonstlädler nicht zahlen. Der Eigentümer duldet sie. Sonstige Nebenkosten finanziert das Kollektiv über Spenden. Heute sind schon 1,10 Euro in die Spendendose am Eingang geflossen.

Und Personalkosten gibt es nicht, die zehn Umsonstlädler sind ehrenamtlich hier, wie es so schön heißt. Seit zwei Jahren läuft der Laden so. Und es funktioniert. „Was kriegen Sie dafür?“ Ein älterer Mann im grauen Mantel zieht ein paar gut erhaltene Bücher aus dem Regal. Helmut antwortet: „Das ist doch ein Umsonstladen!“ Und er drückt ihm ein Infoblatt in die Hand. „Er kennt uns noch nicht“, kommentiert Helmut und zwinkert. Der alte Mann ist ganz begeistert. Er würde gleich nächste Woche wiederkommen, verspricht er im Gehen. Er selbst habe noch viele Sachen, die er loswerden möchte, vor allem Bücher.

„Viele kommen rein und fragen: Was? Umsonst? Und wollen das erst nicht glauben“, erzählt Helmut, 45 Jahre alt. Er kommt aus Oldenburg. Vor zwei Jahren ist er nach Berlin gezogen, in den Wedding. Jobtechnisch herrschte in Oldenburg Flaute. ABM-Maßnahmen gab es keine mehr. In Oldenburg habe es ein ähnliches Projekt gegeben. „Verschenk Mal“, hieß der Laden. Er selbst hat da zwar nicht mitgemacht, habe aber schon mit dem Gedanken gespielt, so was mal zu gründen. Die Idee fand er schon damals super.

So wie Leute in mindestens zwanzig anderen deutschen Städten auch. Denn so viele Umsonstläden gibt es mittlerweile: Detmold, Bremen, Potsdam, Hamburg und Hannover haben sogar schon zwei.

„Von klein auf lernen wir: Es gibt nichts umsonst. Wir haben das alle verinnerlicht“

Im Hintergrund trällert der Neue Berlinärrr Ruuunndfunk, 91,4. Der Sender mit Musik für 40-Jährige und aufwärts. „Popmusik mit Glöckchengebimmel im Hintergrund und schon nennt sich das ganze Weihnachtsprogramm“, mosert Günter. Doch Konjunktur hat um diese Jahreszeit auch der Umsonstladen. Vom Weihnachtsgeschäft werden sie profitieren, aber eben erst nach den Festtagen, weiß Günter. Denn dann kommen die Leute und bringen nagelneue Sachen mit: Geschenke und unnütze Dinge, die sie nicht gebrauchen können, die man nicht um sich haben möchte.

Eine 20-Jährige betritt den Laden. Sie packt aus ihrem Rucksack eine Regenhose, einen Schlafsack und einen Berliner Stadtplan aus. Den Schlafsack braucht Helmut gar nicht erst einzusortieren. Eine andere Nutzerin hat ihn sich schon gekrallt.

So soll es auch sein. Dann erzählt Günter wieder eine Anekdote: Zum Stadtplan fällt ihm die Straßenkarte der Hauptstadt der DDR ein, die sie bis vor einigen Tagen hier noch hatten. „Westberlin war darauf eine große Grünfläche.“ Ein Ostalgiker habe den Plan mitgenommen. Neben einer DDR-Fahne und einem FDJ-Aufnäher.

Ein Junge mit blauer Wollmütze kommt in den Laden, schaut sich um und nimmt sich ein kleines, silbernes undefinierbares Objekt. Einer Walrossfigur ähnelt es, ist es aber nicht. „Wir bekommen manchmal Sachen, wo wir bis zum Ende nicht wissen, was das sein soll“, kommentiert Günter.

Er würde gerne mal einen Film drehen, für das dritte Programm. Über die Gegenstände im Laden, die keiner identifizieren kann. Und trotzdem seien auch diese Sachen irgendwann weg.

An diesem Nachmittag ist viel los im Laden. Die meisten, die kommen, müssen gar nicht von Helmut oder Günter zum Reden animiert werden. Sie erzählen von selbst.

Eine Stammnutzerin, als Gertrude bekannt, zum Beispiel. Dieses Mal hat sie unter anderem ein Autoquartett, ein grün kariertes Hemd und eine quietschrote Sonnenbrille dabei. Die Sachen gehörten ihrem Sohn, der längst ausgezogen sei und selbst schon Frau und Kinder habe. Und sie redet weiter: Mit der Brille und dem Karohemd hätte er schon so manch eine verkrampfte Familienfeier froh gestimmt. Gut, dass Hemd und Brille hier noch einmal eine neue Existenz anfangen werden.