Der Diskurs tanzt

Heimliches Festival: Der dritten langen Nacht des Tanzes gingen viele Nächte voraus. Denn Premieren gab es seit Anfang Dezember, dem Start von „Tanz made in Berlin“, auf fast allen Bühnen der Stadt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

„Tanz made in Berlin“ ist zu einem Label geworden, das von einer ausgeprägten Neigung zu Sprache und zum Diskurs erfasst ist. Der Tanz spricht, und die Tänzer reden. „Ich habe Angst, dass ich zu lange getanzt habe“, sagt einer mit Hasenmaske am Ende eines Abschnitts von Christoph Winklers „Triple Bill“, und für einen kurzen Augenblick glaubt man, dem Choreografen und seiner Sorge, zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben zu wenig beizutragen, mitten ins Herz zu schauen. „Oh, Kunst ist Scheiße, wäre ich doch Greenpeace-Aktivist geworden“, grübelt ein Spieler der Gruppe Two Fish, und ein andere fantasiert: „… heimlich eine ältere Frau heiraten und mit der dann Hunde züchten.“ Martin Nachbar schlägt in seinem Solo „Ermittlung“ ein Lehrbuch für Kriminalistik auf und liest daraus über die Kontrolle der Körpersprache des Kriminalisten vor. Es ist ein weiter Weg von dort bis zu seinen einer ganz anderen Logik folgenden Körpersprache, den er mit trockenem Humor und den Analyseinstrumenten des Fernsehkrimis zurücklegt.

Die Befragung des Tanzes, sie ist symptomatisch für das Programm von „Tanz made in Berlin“, das seit 2. Dezember auf vielen Bühnen für den zeitgenössischen Tanz läuft. Die Entstehung des Programms selbst ist eigentlich eine erstaunliche Geschichte über das Potenzial der Tanzszene. Heute, am 11. Dezember stellt sie sich zum dritten Mal in einer langen Tanznacht mit über zwanzig Produktionsausschnitten in der Akademie der Künste vor, moderiert von den Performance-Aktivisten She She Pop. Weil die Tanznacht schon bei ihrer Premiere, kaum nach ihrer Erfindung, sofort ausverkauft war, lag der Gedanke einer Ausdehnung nahe. Deshalb haben Claudia Feest und Eva-Maria Hoerster, die beide von der Tanzfabrik kommen und die Tanznacht diesmal mit Bettina Masuch vom Hebbel am Ufer organisieren, die Erweiterung „Tanz made in Berlin“ beschlossen. Damit luden sie die Bühnen ein in dieser Zeit Tanzstücke vorzustellen – dass dann fast jedes Haus eine eigene Premiere plante, war keine Voraussetzung, lässt „Tanz made in Berlin“ aber nun als überraschendes Festival erscheinen. Für die Förderung der dritten Tanznacht hat sich der Hauptstadtkulturfonds eingesetzt, der Anfang des Jahres Tanz in Berlin zu einem dreijährigen Förderschwerpunkt erklärt hat.

Dieses breite Bündnis, das von den Organisatoren übrigens niemand an die große Glocke hängt, ist schon erstaunlich. Denn natürlich ist die Konkurrenz um Fördermittel und Spielstätten groß in einer Stadt, die wie keine zweite in Deutschland Choreografen, Tänzer und Performer anzieht. Die ersten beiden Premieren wurden zum Beispiel in der Halle gezeigt, die von der Choreografin Toula Limnaios vor einem Jahr als Spielstätte für Tanz in alten Turnhalle im Prenzlauer Berg eröffnet wurde, weil sie befürchteten im HAU-Komplex unter neuer Leitung nicht mehr auftreten zu können. Zum einjährigen Bestehen lud Limnaios zusammen mit Rubato zu einer Doppelprogramm ein, mit dem sie auf jeden Fall beweisen, den anderen Produktionen in der Qualität nicht nachzustehen.

„Double Sens“ war das bewegungsreichste Stück von sieben Premieren vor der Tanznacht und fast auch das einzige, das die Schönheit der Bewegung und die Modulation der Energie in den Vordergrund stellte. Die Tänzer erscheinen manchmal nur als dunkle Silhouetten, die sich langsam deformieren, als würde die Tinte weglaufen, mit der die Figur gezeichnet ist. Ein großer Sog verbindet die Szenen: „Double Sens“ blieb das einzige Stück, in dem die Bewegungen sich aus sich selbst begründeten.

Rubato dagegen lebte aus einer ganz anderen und skurrilen Spannung. Jutta Hell und Dieter Baumann haben Rubato 1985 gegründet und gemeinsam über 80 Stücke entwickelt. In „Adrenalin – isoliertes Milieu“ knüpfen sie an die Geschichten ihrer frühen Stücke an. Das Publikum, das durch einen geblümten Gazevorhang auf die beiden blickt, sieht zwei riesige Sessel und ein Paar, dem die Nähe so zur Gewohnheit geworden ist, das der andere darin leicht verschwindet. In vielen Szenen üben sie das passgerechte Anschmiegen, falten sich zu zweit auf einem Sessel umeinander, kriechen wie die Schnecke unter ihr Haus unter die Möbel oder halten sich aneinander fest wie Ertrinkende an einem Floß. Die Suche nach größtmöglicher Berührung ist das eine Bild, das bleibt; das Wegtauchen und verkriechen in den Polsterritzen das andere. Das wäre beklemmend, wäre es nicht zugleich mit großer Hellsichtigkeit geschildert.

Christoph Winkler gehört zu den Choreografen, die seit Ende der 90er-Jahre Tanz aus Berlin auch auf vielen Einladungen, oft in Frankreich vertreten. Sein letztes Stück hieß „Homo Sacer“ wie das Buch von Giorgio Agamben und setzte Passagen des Textes neben Passagen des Tanzes, ohne eine direkte Übersetzung zu behaupten. Auch in seinem neuen dreiteiligen Stück „Triple Bill“, uraufgeführt in den Sophiensälen, stellt er die Nähe zu philosophischen Diskursen aus, weil sie den Denkraum markieren, in dem die Kunst sich ereignet: Der erste Teil ist der Figur des Bartleby von Melville gewidmet, der für seine Verweigerungshaltung berühmt wurde. Der Tänzer Wilhelm Groener wird ihr auf eine spröde Weise gerecht, mit einem Aufgeben der Widerstände des Körpers, die ihn überhaupt aufrecht stehen lassen. Der zweite Teil ist das aufregende Protokoll einer Katastrophe, die sich in kurzen Textbildern sehr schnell zu einem dichten Bild der Angst steigernd; der dritte Teil, „Sexualität und Wahrheit“ genannt, führt ein schönes modernes Ballett auf. Die Mittel, den Kontext zu behaupten, sind jedes Mal andere, und Winkler selbst nimmt sich dabei die Rolle des Künstlers, für den sich verschiedene Konzepte nicht ausschließen. Doch wenn auch jeder der Teile einen sehenswerten Kern hat, so sind doch alle zusammen zu lang und auch zu eitel in der Pose, Vielfalt des Handwerks vorzuführen.

Den Rahmen einer geschlossenen Inszenierung aufzubrechen zugunsten einer offenen Versuchsanlage, in der demokratisch nach den Möglichkeiten von Ausdruck geforscht wird, war vermutlich eine Intention im Konzept der Gruppe Two Fish, die im HAU 2 „Irre“ zeigten. Die junge Compagnie um Angela Schubot, Martin Clausen und Javier Alemán Morillo war mit ihrem letzten Stück erfolgreich aus dem Theater ausgebrochen und in den Alltag von Wohnungen eingezogen. Mit dem Fremdeln in einer ungewohnten Umgebung, mit dem trotzigen Widerwillen, sich preiszugeben, mit dem Verbarrikadieren hinter Posen und den Unsicherheiten im Finden der eigenen Rolle konnten sie in dieser Besuchssituation gut umgehen. In ihrem neuen Stück aber zerfasert alles. Zwei Gruppen treffen aufeinander, die auf verschiedene Art mit dem Normativen kämpfen. Die einen teilen Fantasien, benehmen sich wie Kinder oder Behinderte, stets als Kette hintereinander herziehend und mit der eigenen Wahrnehmung ihre Realitäten schaffend. Eine Weile ist es lustig, ihnen zuzusehen, aber irgendwann will man doch wissen, wohin die Reise geht. Die zweite Gruppe ist mehr in ein aggressives Spiel der Befragung und der Bekenntnisse verwickelt, sie stellen sich auf, sie stellen sich vor, sie suchen ihr Ziel und halten sein Fehlen und den selbst erzeugten Druck nicht aus. Aus diesem Stoff sind schon zu viele Theaterstücke entstanden, als dass eine rohe Workshop-Fassung dem Neues hinzufügen könnte.

Auch zwei Produktionen der Reihe Coop 3, die das HAU beigesteuert hat und in der Tänzer und Choreografen aus Osteuropa mit Berliner Künstlern arbeiten, lösten sich auf in Selbstbeobachtung und Zweifel darüber, was man mit Tanz überhaupt will. Aus diesem selbstkritischen Diskurs einen eigenen Zugriff zu machen, der auch die Rezeption von Tanz spielerisch thematisiert, gelang nur Martin Nachbar in seiner „Ermittlung“. So fehlte denn „Made in Berlin“ bislang ein Höhepunkt. Das ist schade, denn die einmalige Bündelung der Kräfte sah viel versprechend aus. Die neuen Produktionen von Constanza Macras, Anna Huber, Riki von Falken oder Luc Dunberry sind allerdings erst in der langen Tanznacht in der Akademie zu sehen, die um 18 Uhr startet und mindestens sechs Stunden dauern wird.

Neben der langen Tanznacht laufen am 11. und 12. Dezember 16 weitere Vorstellungen, siehe tazplan