Hohe Ziele, zitternde Beine

Beim mondänen Familienfest der deutschen Sportlerherrlichkeit heimsen Schwimmerin Hannah Stockbauer, Radler Jan Ullrich und eine fröhliche Schar von Fußballerinnen die höchsten Ehren ein

Das Duell der Giganten: Rasende Kolbenfresse gegen pausbäckigen Sommerspross

AUS BADEN-BADENFRANK KETTERER

Nun, da die Zeit der großen Jahresbilanzen wieder gekommen ist, geht natürlich auch der bundesdeutsche Sport tief in sich und beginnt zu räsonieren: Was war gut? Was war schlecht? Wo flog das Runde am Schönsten ins Eckige, oder, ersatzweise, welche magersüchtigen Hänflinge am weitesten von irgendeiner Schanze? Bzw.: Warum können deutsche Männer immer noch nicht Fußball spielen, dafür aber besonders schnell und stumpfsinnig im Kreis herumrasen? Und: Wie war das doch noch gleich im Sommer mit diesem maillot jaune und dem sommerbesprossten Steuerflüchtling?

Fragen wie diese sind es, die den Sport zum Jahresende immer wieder aufs Neue umtreiben. Geklärt werden sie in so manchem TV-Rückblick – und, höchst demokratisch, per Wahlen. Die wichtigste Wahl findet natürlich ebenfalls im Fernsehen statt – und zwar im ZDF. Knapp 3.000 Sportjournalisten, und somit die Ausgeburt an geballter Kompetenz, sind dafür zur Urne gegangen; wenn sie alle ihr Kreuzchen gemacht haben, wird das, so will es die Tradition, mit großem Klimbim im mondänen Kurhaus zu Baden-Baden gefeiert. In der Branchenfachsprache nennt sich das dann „Familienfest des deutschen Sports“.

Das Familienfest beginnt – wie jede Fete – mit Warten. Und wie im richtigen Leben kommt auch in Baden-Baden das Beste – oder doch zumindest jene, die sich dafür halten – zum Schluss. Franz Beckenbauer zum Beispiel schreitet spät über den roten Teppich, hinein in den großen Saal, wo alle anderen Gäste schon sitzen und somit gut sehen können, wo sich der Kaiser hinsetzt. Der Kaiser muss sich zu Johannes B. Kerner, der Ich-tu-keinem-weh-Labertasche vom ZDF, setzen, was man irgendwie beiden gönnt, aber ganz offensichtlich selbst für den Firlefranz zu viel des Guten ist: Kaum sitzt er, ordert er die erste Pulle Schaumwein. Alkohol macht vieles erträglich, selbst Kerner.

Zeitgleich mit der Flasche kommt Anni Friesinger, was seinen guten Grund hat, schließlich taugt so ein Familienfest ja auch immer zum Sehen und Gesehenwerden – und zum Vorzeigen. Anni hat einen schwarz-glänzenden Mantel um, wie ihn Boxer vor dem Kampf tragen – und allerlei Hervorquellendes. Das sichert ihr nicht nur neidische Blicke, sondern auch ein sattes Blitzlichtgewitter all der Fotografen, die Bildchen fürs Familienalbum schießen. Anni sagt: „Ich würde bei der Wahl gerne eine der ersten drei sein.“

Womit der Wahlkampf eröffnet ist – und das Essen. Es ist Zeit für leckeres Dreierlei vom Lachs, Medaillon vom Rind im Blätterteignest auf Portweinsauce, umlegt mit kleinem Gemüse, Zimt-Nougatcreme im Schokoladentörtchen mit Zitroneneis – und die ein oder andere Wahlprognose. Von Herbert Grönemeyer erfährt man, dass er erstaunlicherweise nicht den VfL Bochum zur Mannschaft des Jahres wählen würde, sondern den VfB Stuttgart, während Alice Schwarzer (wer hätt’s gedacht?) „sehr stolz“ ist „auf die deutschen Fußball-Frauen“. Mario Adorf wiederum zeigt sich verwundert darüber, dass Frauen überhaupt Fußball spielen können, und Bundespräsident Rau gibt mal wieder den Bruder Johannes: „Ich habe natürlich Favoriten, aber sagen tu ich die nicht.“

Ist auch gar nicht nötig, weil gleich darauf die Übertragung des Familienfests beginnt. Die wird von Wolf-Dieter Poschmann und Kristin Otto moderiert, Letztere steht in diesem Jahr wenigstens nicht wie ein schwangerer Rauschgoldengel auf der Bühne. Dann geht’s endlich wirklich los – und zwar mit den Frauen. Als Erste wird Birgit Prinz auf die Bühne gebeten, die Weltfußballerin ist Dritte geworden. Birgit Prinz will demnächst eventuell bei den Männern mitspielen, nun sagt sie: „Ich war schon immer gegen den Vergleich zwischen Männern und Frauen. Niemand wird zu Zinedine Zidane sagen: Oh ja, der männliche Birgit Prinz.“ Es ist der Spruch des Abends, gefolgt von Anni Friesinger als Zweitplatzierter und der dreifachen Schwimm-Weltmeisterin Hannah Stockbauer. Hannah gewinnt also die Familien-Wahl, trägt dazu ein langes, schwarzes Kleid, das ein bisschen aussieht wie ein Flickenteppich, und sagt: „Meine Beine zittern wie Hölle. Das liegt aber nicht an den hohen Schuhen, sondern an der Aufregung.“

Aufregung gibt es auch bei den Männern. Nicht wegen dem Nordischen Kombinierer Ronny Ackermann, der Dritter wird, sondern wegen dem Duell der Giganten: Rasende Kolbenfresse gegen pausbäckigen Sommerspross. Es gewinnt: Der Sommerspross, was allemal das kleinere Übel ist, zumal sich Jan Ullrich wirklich freut wie ein Schneekönig – und erstaunlicherweise gar keine Pausbacken hat, als er seine Trophäe abholt für Platz zwei bei der Tour de France. Dort verspricht er auch, schön brav zu sein, keine Schokoriegel mehr zu vertilgen, nächtens keine Fahrradständer umzufahren und sich von Fremden in der Disco keine Pillchen mehr andrehen zu lassen. Ullrich sagt: „Ich habe mir für das nächste Jahr viele hohe Ziele gesteckt.“

Hohe Ziele, nämlich die Weltmeisterschaft, wiederum haben die deutschen Fußball-Frauen schon erreicht, weshalb sie von der lieben Familie zur Mannschaft des Jahres erklärt werden, weit vor dem VfB Stuttgart und der deutschen Biathlon-Staffel der Männer. Auffallend bei den deutschen Fußballfrauen ist, dass sie auch bei Familienfesten Hosen an haben, wenn auch lange – und darin gar nicht so schlimm aussehen wie in ihren kurzen. Tina Theune-Meyer, der weibliche Rudi Völler, lobt die deutschen Frauen als Turniermannschaft („Unsere Stärke war, dass wir während des Turniers immer besser geworden sind.“), und auch der Firlefranz haucht wie weiland Marilyn Monroe ein „Gratulation“ ins Mikrofon, während Gerhard Mayer-Vorfelder, der bei der letzten Familienfeier die anschließende Trollinger-Kontrolle nicht bestanden hat, diesmal nichts sagen darf, sondern den Frauen nur hinterherdackelt und feist in die Kamera grient.

Dann ist die Zeit des Bilanzierens für den deutschen Sport auch schon wieder vorbei – und es geht zu wie auf jedem anderen Familienfest auch: Es wird geredet (über und miteinander), getanzt bis in den Morgen – und auch das ein oder andere Glas geleert.