Sehnsucht nach der Gruppe

UNPOLITISCHE MENSCHENMENGEN „Kollektive aller Länder!“: So lautet das provokant gewählte Motto des internationalen „Live Art Festivals“, das heute in Hamburg startet. Mit Verführung und Kopflosigkeit befasst sich keine aufgeführte Arbeiten

Highlights beim Live Art Festival (7.–23. 5.)

■ Small Metal Objects: Kopfhörer-Performance am Hauptbahnhof (7.–9. 5., Hauptbahnhof)

■ Beschwerdechor: Gesungene Klagen von allen für alle (15. 5., Rathausmarkt)

■ Dance (Practicable): Eine jedes Mal andere Tanz-Performance, basierend auf Impulsen des Körpers (15.+16. 5., Kampnagel)

■ Open Space: Tag voller Diskussionen über künstlerische Facetten des Kollektivs (17. 5., Kampnagel)

■ Hard Schunkel – Eine Live Art Parade: quasi-karnevalistischer Umzug (22.+23. 5., Kampnagel)

Programm: www.kampnagel.de

VON PETRA SCHELLEN

Würde man behaupten, der Begriff „Kollektiv“ löst positive Assoziationen aus, dann wäre das arg geschmeichelt: Nicht zuletztZwangskollektivierung, Kolchosen und ähnlich Realsozialistisches kommt einem da wohl in den Sinn. Und kaum anderes bewirken einschlägige Parolen wie „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“. Umso überraschender, dass die Initiatoren des heute beginnenden „Live Art Festivals“ auf der Hamburger Experimentierbühne Kampnagel ihr Motto aus diesen Ingredienzien mixten: „Kollektive aller Länder!“ lautet es, derzeit in riesigen Lettern stadtweit auf Plakate gepappt.

Die Provokation ist gewollt, die negative Assoziation wird gern in Kauf genommen. Sagt Kuratorin Anne Kersting: „Wir wollten durch diesen Begriff möglichst viel Störung einbauen, damit sich die Leute fragen, was die Organisatoren damit gemeint haben könnten.“

Genau dort – beim verschärften Nachdenken – beginnt für Kersting und ihren Mitkurator Jochen Roller das Politische, das sie ausdrücklich in das Festival hineingetragen wissen will. Dessen Motto lässt sich nämlich auch als kulturpolitische Zustandsbeschreibung lesen: Die steigende Neigung von Tänzern und Performern, Kollektive zu bilden, ist kein Zufall. Viele Künstler haben es satt, Solistisch-Selbstbespiegelndes zu bieten – „wenn sich dies auch in den letzten Jahren, wo es stark um autobiografische Handschriften ging – künstlerisch gut rechtfertigen ließ“, sagt Kersting. Jetzt mögen sie nicht mehr im eigenen Brei rühren. So ist die Sehnsucht nach der Gruppe entstanden.

Und gibt es dafür nicht auch noch ganz handfeste Gründe? „Je mehr Individuen zusammenkommen, jeder mit einem Bündel an Co-Produzenten im Gepäck, desto eher lässt sich ein Gruppenprojekt umsetzen“, sagt Anne Kersting. Denn die Zeiten, in denen eine einzige Geldquelle dafür reichte, sind lange vorbei. Und so sind Künstler wie auch – in diesem Fall – Festival-Kuratoren wach geworden für die Chancen, die die Gruppe bietet. „Wir haben gezielt Künstler eingeladen, die bereits Kollektive gebildet haben oder das gerade tun“, sagt Kerstin. „Wir wollen einen Trend – und sei er noch so klein – wenn nicht erfinden, dann wenigstens benennen.“

Dabei ist die Variante des „Kollektivs“, die während des Live Art Festivals zelebriert wird, nicht ganz leicht zu definieren. Selbstverständlich meine sie nicht das Modell der „klar gescheiterten sozialistischen Utopie“, sagt Kersting. Überhaupt sei der Kollektivbegriff inzwischen weit von politischen Konnotationen entfernt. So wird nur im Rückblick an die Massenbewegungschöre Rudolf Labans aus den 1920er Jahren erinnert. Oder an die biomechanischen Übungen des Regisseurs Wsewolod Meyerholds, der einen auch innerlich konformen „neuen Menschen“ im Sinn hatte.

Andererseits ist die Idee der bewegungskonformen Menge durchaus aktuell, und die zum Festival geladene Hamburger Gruppe „Ligna“ bietet ein Beispiel hierfür: Über Kopfhörer diktiert sie den Besuchern Bewegungen – eine spielerische Parabel auf das, was Werbung und Video-Clips mit Jugendlichen tun: Konformitäten erzeugen durch subtile Infiltration.

Doch weder Ligna noch eines der anderen geladenen Kollektive nimmt die Kopflosigkeit, Steuerbarkeit und Verführbarkeit von Kollektiven in den Blick – „aber eine solche Produktion“, sagt Kuratorin Kersting mit Bedauern, „haben wir einfach nicht gefunden“.

Die Lücke füllen soll ein „Open Space“: ein gleichfalls auf dem Kollektivgedanken basierender, quasi basisdemokratischer Diskussionstag. Das Publikum ist eingeladen, nicht nur die Ambivalenz des Kollektivbegriffs diskutieren, sondern auch die Verschiebung der Grenze zwischen Performer und Zuschauer.

Denn diese Idee – dass Performer und Publikum keine getrennten Gruppen sind – ist die zweite Säule des Festivals: „Viele zeitgenössische Produktionen funktionieren nicht mehr über den passiven Konsum eines Stücks“, sagt Kersting. „Sie fordern die Zuschauer zum Mitmachen.“ So auch das Eröffnungsstück „Small Metal Objects“, bei dem die Zuschauer auf einer Tribüne über Kopfhörer einer Performance folgen, die mitten im Getümmel des Hamburger Hauptbahnhofs spielt. Dabei werden die Zuschauer, von uneingeweihten und also verständnislosen Passanten beobachtet, ihrerseits zu Akteuren.

Auch die Amsterdamer Performerin Ivana Müller fordert das Publikum zur Aktivität auf: „Playing ensemble again and again“ heißt ihr Stück, das aus Verbeugungen der Schauspieler besteht, die sich über gerade gespielte Stück unterhalten, ohne es aber zu zeigen. Das müssen sich die Zuschauer anhand der erzählten Fragmente vorstellen.

Weder diese Methode noch die thematisierte Verwischung der Grenze zwischen Akteuren und Publikum ist neu, das gibt Kersting ehrlich zu. Aber ihr liegt daran, „in regelmäßigen Abständen daran zu erinnern, dass Theater ein Gemeinschaftserlebnis ist“. Und dass es ein Mikrokosmos sein kann, ein Labor, das auch konkret Politisches fokussiert: „Body Swap“ heißt die Produktion der in Hamburg lebenden US-amerikanischen Choreographin Dani Brown und ihrer Kollegin Joavien Ng aus Singapur. Beide tauschten für eine Woche die Rollen und loteten aus, was es mit den vielgepriesenen Multikulti-Idealen auf sich hat: „Die Idee ist ja ganz schön“, sagt Anne Kersting. „Aber man soll doch bitte genau hinschauen: Entsteht wirklich Harmonie oder kracht es einfach nur?“

Ein Stück, das möglicherweise manchem ein, zwei Illusionen raubt. Aber um solche zu bewahren, sind die Festivalmacher auch nicht angetreten.