Peter Hantke liefert Kohle


„Es ist wegen der Wärme“, brummt Hantke und guckt aus dem Fenster. Berlin ist zu warm für Geschäfte

AUS BERLIN KIRSTEN KÜPPERS

Um sieben Uhr früh trinkt Lothar einen Schluck. Es ist ein feucht-kalter Morgen, dunkel noch. Der Chef kommt gleich, und Bier ist nicht das Schlechteste zum Wachwerden, wenn der Alkohol von der Nacht noch in einem hängt und im Gesicht der Kohlenstaub juckt. Lothar setzt die Bierflasche an, knipst am Lichtschalter. Die Leuchtstoffröhre zittert nervös, bevor sie einen blassen Schein auf den Hof wirft, den Bretterverschlag beleuchtet, die Kohle und den Bauwagen. Gleich kommt der Chef. Er spuckt aus, läuft vor zum Tor, zieht das Gitter auf. Die Kohlenhandlung Hantke hat jetzt geöffnet.

Es ist nicht so, dass nun die Kunden hereinströmen und säckeweise Kohle kaufen. Der Branche geht es nicht besonders. 1990 gab es noch rund 470.000 Wohnungen mit Kohleöfen in Berlin. Derzeit heizen nur mehr knapp 50.000 Haushalte mit Briketts, schätzt die Senatsverwaltung. Man kann sagen, dass mit dieser Entwicklung eine gewisse Schwermut auf die Kohleversorger der Stadt gefallen ist. Viele Geschäfte lassen früher oder später die Rollläden runter und schließen. Der Mann, dem früher die Kohlenhandlung in der Anklamer Straße in Berlin-Mitte gehörte, hat sich totgesoffen. Der Kollege zwei Straßen weiter hat sich vor vier Jahren das Leben genommen. Auch Lothars Vorgänger ist eines Tages auf einen Stuhl gestiegen. Und dass es ein Heizungsrohr war, an dem er sich aufgehängt hat, lässt sich wohl als Botschaft verstehen.

Die Brennstoffhandlung Hantke macht weiter, unnachgiebig, weil sich nichts Besseres aufdrängt. Peter Hantke, der Chef, ist 42 jetzt, da werden die Chancen nicht mehr. Es gibt einen berühmten Schriftsteller mit ähnlichem Namen. Und es kommt vor, dass Leute am Tor vorbeilaufen und rufen: „Ha, ha, Peter Handke schreibt keine Bücher mehr, der verkauft jetzt Kohlen.“ Peter Hantke aus Ostberlin ist ein schwerer, ernster Mann mit einem Beruf, der nichts Schöngeistiges hat. Er zahlt Miete für einen räudigen Platz am Ende einer Straße. Auf dem Platz liegt die Ware. Außerdem stehen dort ein Multicar-Transporter, ein Bauwagen, in dem ein Telefon klingelt, wenn jemand Kohlen bestellt, und sein betrunkener Hilfsarbeiter Lothar. Mit dem fährt Hantke die Kohlen aus. Die Briketts schleppt er den Kunden persönlich in die Keller. Für Bücher hat er keine Zeit. Sein Name klingt zufällig wie der eines Schriftstellers, den er nicht kennt. Das ist alles.

„Zehn Tschechische noch ruff“, brüllt Hantke um 7.15 Uhr und klettert in den Bauwagen, um im Auftragsheft zu gucken, was der Tag bringt. Lothar stellt sein Bier ab und läuft. Die tschechische Kohle ist keine gute Ware. Lothar wuchtet die Säcke auf das Multicar und steht im Staub. Die Bruchkohlen zerfallen im Ofen zu grauem Schmutz, die Wärme halten sie nicht. „Wat für’n kleenen Jeldbeutel“, erklärt Hantke. Wie ja alle Menschen anscheinend nur noch mit kleinem Geldbeutel einkaufen. Früher gab es Geschichten von Kohlenhändlern, die ihre Sommer in Florida verbringen. Blondinen im Arm und Cocktails unter Palmen. Hantke war noch nie in Florida. Er macht Ferien auf einem Zeltplatz in Brandenburg.

Früher haben sie immer auf den November gewartet. Der November war der beste Monat für den Brennstoffhandel: Der Winter kam, die Leute sind erschrocken. Sie haben gefroren und Kohlen bestellt. Aber in diesem November hat Hantke nur halb so viel verdient wie vor einem Jahr. Weil man zu diesen Verlusten irgendwas sagen muss, sagt er: „Es jeht immer irgendwie weiter.“

Das ist ein praktischer Satz. Er lässt die Tatsache aus, dass die letzten Wohnungen mit Kohlenheizung aussterben. Er sagt nichts darüber, dass Hantkes Laden den Bach runtergeht. Dass die Menschen heute bequem sind. Dass sie lieber an einer Zentralheizung drehen, als mit schmutziger Kohle zu hantieren. Aber wenn einer nachfragt, schiebt Hantke alles aufs Thermometer: „Es ist wegen der Wärme“, brummt er und guckt aus dem Fenster. Berlin ist zu warm für Geschäfte. Eine Behauptung, die noch Platz lässt für Hoffnung. Wegen dem schlechten November sitzt inzwischen auch der alte Hantke, der Vater, im Bauwagen und wartet. Im Radio singen die Beach Boys. „Surfin’ USA“. Und der alte Hantke schaut aufs Telefon und hofft, dass die Kälte noch kommt.

Um acht Uhr morgens machen Lothar und der Chef die zweite Fuhre. Sie schichten einem jungen Studenten eine halbe Tonne in den dunklen Hinterhofkeller. Zwischendurch rennt Lothar in den türkischen Supermarkt und kauft drei neue Biere. Sein Chef stapelt sich hundert Kilo Briketts auf den Rücken, er keucht, die Schultern schaukeln beim Gehen. Der Student steht im Hof, guckt verlegen. Er gibt einen Euro Trinkgeld.

Weitere Kunden an diesem Tag sind: ein exilirakischer Elektrotechniker, eine Kunstgeschichtsstudentin, ein Neuberliner aus Münster, eine junge Spanierin mit grünen Haaren. Die alte Stammkundschaft der Brennstoffhandlung Hantke ist irgendwie verloren gegangen. „So isset“, sagt Hantke. Die Leute fallen um, sie sterben oder ziehen weg. Es sind die Häuser mit den verrosteten Briefkästen, die er und Lothar beliefern, wo der Putz rutscht und das Licht kaputt ist im Keller. Sie müssen sich beeilen, bevor alles zusammenfällt. Lothar springt von der Ladefläche, verstaut hastig die Flaschen in der Jacke. Nach elf Uhr morgens ist seine Stimme nur noch ein Rumpeln und Quietschen. Er stapelt die Briketts und der ganze Keller riecht nach Bier. Es passiert jetzt öfter, dass er sich den Kopf anhaut. „Is’ ja keen Problem“, krächzt er fröhlich, und es klingt wie das Geräusch aus dem Inneren eines kaputten Staubsaugers.

Im Bauwagen in der Anklamer Straße sitzt derweil der alte Hantke und wartet. Weil das Telefon nicht klingelt, hat er Zeit zum Reden. Er erzählt von früher, als sein Vater den Laden noch hatte und sie die Kohlen mit Pferden zu den Leuten brachten. Für die Pferde gab es eine Wiese zum Weiden. Und wie er so ins Reden kommt, erzählt er auch von den Gelegenheiten. „Da mussten wa die Kohlen hochtragen, und plötzlich steht die Kundin nur im Flatterhemde da und will ne Nummer schieben.“ Der alte Traum. Pferde, Wiesen, Frauen.

Inzwischen gibt es in Berlin weder Pferde noch Wiesen, auch keine Kundinnen mit Flatterhemden. Selbst der Multicar-Transporter wirkt zwischen den neuen Autos auf der Straße wie eine Antiquität. Nach dem Mauerfall liefen Hantkes Geschäfte schlechter, dann besser, dann wieder schlechter. Jetzt liefern sie Kohlen an Studenten ohne Geld und ohne Dankbarkeit. An junge Menschen, die umziehen, sobald es für eine Zentralheizung reicht. „Dit is dit Problem“, murrt der alte Hantke, „dit Unjewisse.“ Er macht eine Pause. Er hat die Vergangenheit im Kopf. Die Frau ist tot. Die Schwiegertochter ist vor zwei Jahren hier im Bauwagen gestorben. Im Radio singt jemand „Silberbird, lass mich fliegen“. Der alte Hantke schweigt. Er stützt die schweren Unterarme auf den Tisch. Sie sind Männer ohne Frauen und ohne große Zukunft.

Und wenn der Tag dann irgendwann vorbei ist, wenn Peter Hantke und Lothar beim Imbiss waren und es für den Chef zum Mittag zwei Kohlrouladen gab und für Lothar drei neue Flaschen. Wenn sich die Bauarbeiter lustig gemacht haben über Hantkes zerrissene Arbeitsjacke und über den Dreck in ihren Gesichtern. Wenn sie noch drei Lieferungen gemacht haben und Lothar schon sehr geschwankt hat beim Gehen. Wenn sie eine Stange Zigaretten bei der vietnamesischen Händlerin gekauft haben und der Chef noch eine Currywurst. Wenn dann also gegen 16 Uhr Feierabend ist. Dann sitzen sie noch eine Weile im Bauwagen zusammen.

Rudi, der Trinker von der Straße, ist auch dabei. Sie sitzen und reden, fallen sich ins Wort. Im Radio laufen jetzt nur noch Weihnachtslieder. Und Rudi ist es dann auch, der eine schöne Ankündigung macht. „Muss ja nicht immer Schnaps und Bier und Alkohol sein an Weihnachten“, sagt er. „An Weihnachten, da trinken wa ma bisschen Glühwein.“ Er guckt in die Runde. Lothar kichert, der Chef grinst. „Na denn is jut“, schnaubt der alte Hantke. „Da haste een janz hübschet Ding zu sitzen, mein Lieber, mit Glühwein.“ Er steht auf, nimmt seine Jeansjacke vom Haken, packt die Thermoskanne in die Tasche und geht.