PS 3:

Noch ein PS, das mir am Herzen liegt: Neben Briefen, die vor allem dir nützen, bitte ich dich, auch solche zu schreiben, mit denen du deine Sorge um die Gesellschaft ausdrückst. An Weihnachten, da wird von Frieden oder Glück geredet. Wir wünschen uns das gegenseitig. Aber was wird getan, damit der Wunsch sich erfüllt? Gebetet? Bist du nicht auch vor Jahren aus der Kirche ausgetreten?

Sollen wir den Wunsch nach Frieden und Glück also als Floskel abhaken? Oder sollen wir mit muslimischen Taxifahrern in Berlin den Konsens suchen und so die Welt verbessern?

Ich bin der Meinung, wir müssen den Politikern schreiben. „Hallo Schröder-Fischer-Stoiber-Merkel, Ihren Glückwünschen an die Bevölkerung zum neuen Jahr möchte ich mich anschließen, Sie aber auf einen Aspekt von Frieden und Glück aufmerksam machen, den Sie im Begriff sind zu verspielen: Die soziale Gerechtigkeit. Warum tun Sie das? Ich bitte Sie eindringlich, es mir zu erklären. Vielleicht können Sie meine Zweifel zerstreuen, um mich als Wählerin nicht zu verlieren.

Sag jetzt bitte nicht, so ein Brief sei Humbug. Es ist kein Quatsch, seine Sorge auszudrücken? Ich schicke den Brief natürlich mit dem Vermerk „persönlich, vertraulich“ an die Leute. Es macht mir Spaß, mir vorzustellen, dass Schröder-Fischer-Stoiber-Merkel meine drei Sätze wirklich lesen. Ich stelle mir vor, dass sie sich entrüsten: „Was maßt sich die Bevölkerung an, Erklärungen zu verlangen?“ Dann schicken sie uns als Antwort die Parteiprogramme zu und zählen auf, was sie geleistet haben: den Arbeitsmarkt reformiert, die Steuern gesenkt, Investitionen getätigt. Ich schreibe zurück: „Sehr geehrter Schröder-Fischer-Stoiber-Koch, das ist ja alles sehr beachtlich, aber warum merkt man das an den Schulen und Universitäten nicht? Auch nicht in der U-Bahn, im Zug, im Krankenhaus, auf dem Arbeitsamt?“ Worauf man mir antworten wird: „Statistisch gesehen merkt man es.“

Okay, es stimmt, ich muss Traumtänzerin sein, um zu glauben, dass man damit Frieden und Glück näher kommt. Aber, liebe M.: Bevor ich schwarz sehe, muss ich was tun.

Gold sehen, Rot sehen, Schwarz sehen – merkst du, auf was für eine komische Trilogie das hinausläuft. Fast wie Krzysztof Kieslowskis Drei-Farben-Epos aus Rot und Weiß und Blau. Kennst du die Filme? Vor allem die Musik von Zbigniew Preisner dazu liebe ich. Aber du gehörtest früher ja auch zu denen, die der Meinung waren, dass mein Musikgeschmack daneben ist. Schreimusik sei, was mir gefällt. Als ich mit meiner Schwester zusammenwohnte, meinte die mal: „Immer wenn ich höre, was du hörst, denke ich: ‚Das ist das Schrecklichste, was es gibt‘. Wenn ich dann wieder in dein Zimmer komme, hörst du aber noch was viel Schrecklicheres.“ Aber ich schweife ab. (Nur noch das: Meine Schwester hat mittlerweile ein Kind. Ein Schreikind!)

Also, bevor du schwarz siehst, schreib Protestbriefe. Wenn du es geschickt machst, packst du die Politiker wenigstens an ihrer Moral. Vor Jahren, als das Grundgesetz mit Unterstützung der SPD-Opposition geändert wurde, damit das Asylrecht verschärft werden konnte, haben eine Freundin und ich alle SPDler und SPDlerinnen angeschrieben, von denen wir wussten, dass sie zustimmen wollten, und die sich gleichzeitig auf die Fahnen hefteten, in Menschenrechts-, Kirchen- oder Wohlfahrtsorganisationen zu sein. Bei Herta Däubler-Gmelin las sich das so: „Können Sie als Juristin und als Mitglied der World Women Parliamtarians for Peace dem Asylkompromiss tatsächlich zustimmen? Gibt es da nicht erhebliche Widersprüche, die in einer Art Kopfgeburt einfach ‚weggedacht‘ werden? … Wann werden SPD-ParlamentarierInnen endlich Zunge zeigen, anstatt „Ja und Amen“ zu sagen?“ Die Organisationen, in denen die Abgeordneten Mitglied sind, kann man in Kürschners Volkshandbuch finden. Nicht wenige der SozialdemokratInnen haben zurückgeschrieben, was wir uns erdreisten, ihre schwere Gewissensentscheidung in Frage zu stellen. Ein Triumph für uns war das nicht.

Heute denke ich, es bringt mehr, sich im Kleinen einzumischen. Hier in Berlin, da brennt es doch an allen Ecken und Enden. Mein Nachbar, ein Historiker, der sich als Stadtführer verdingt, hat der Bürgermeisterin von Lichtenberg geschrieben. Der Bezirk will einen Platz nach dem Tierparkchef Heinrich Dathe benennen. Mein Nachbar allerdings macht die PDS-Frau darauf aufmerksam, dass Dathe, bevor er sich mit Tieren beschäftigte, auch ein hohes Tier der Nazis war. „Es ist völlig unverantwortlich, noch heute Plätze und Straßen in Berlin nach fanatischen Nationalsozialisten zu benennen … Heinrich Dathe hat als NSDAP-Mitglied zur Machtergreifung Adolf Hitlers aktiv beigetragen … „ Eine Spitze, die die PDS-Frau ärgern könnte, hat er auch gesetzt: „Zweifelsohne hat Dathe sich nach 1954 als Direktor des Tierparks Verdienste erworben, die aber von der DDR mit der Auszeichnung des Karl-Marx-Ordens entsprechend gewürdigt wurden.“ Lichtenberg ist eine Hochburg der Neonazis in Berlin. Man darf gespannt sein, wie die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt wird.

Protestbriefe kannst du genauso verfassen wie Reklamationen. Da du aber nicht mit einer Klärung des Problems rechnen kannst, ist dein Erfolg der, überhaupt in einen Dialog zu treten. Da gelten natürlich die Regeln, die dialogfördernd sind: Ein kleines Lob mag Wunder bewirken, denn Politiker sind in der Regel eitel: „Sehr geehrter Herr Bausenator Strieder, schon seit Jahren bin ich eine große Bewundererin Ihres Charmes, mit dem Sie noch jeden Gegner überrumpelt haben, wenn es darum ging, Ihre Projekte durchzusetzen. Nun aber treibt mich die Sorge, dass Sie eine Entscheidung durchsetzen wollen, deren Konsequenzen der Stadt großen Schaden zufügen wird.“ Danach suchst du dir aus der Liste der Anmaßungen des Bausenators irgendeine aus. Die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes beispielsweise, die einem Hochsicherheitstrakt ähneln wird, will er in Mitte dort bauen, wo eigentlich autofreies Wohnen geplant war.

Auch Höflichkeit ist angebracht. „Sehr geehrter Herr Bürgermeister Wowereit, ich lasse es mir angelegen sein, Ihnen heute zu schreiben, denn die Sorge um Ihr und unser aller Wohl treibt mich. Ich bitte Sie, aus Gründen der Gerechtigkeit Ihren Dienstwagen und den der anderen Senatoren abzuschaffen, denn diese sind von der Verfassung ebenso wenig vorgesehen wie das Sozialticket. Dieser Mobilititätszuschlag für Sozialhilfeempfänger soll gestrichen werden, weil nach dem Verfassungsgerichtsurteil zum Berliner Haushalt nichts finanziert werden darf, was die Verfassung nicht erfordert. Nicht, Herr Wowereit, nach dem Gesetz sind wir doch alle gleich? Dass dies in Ihrem Sinne ist und dass Sie das offensiv im In- und Ausland vertreten, das habe ich schon oft an Ihnen bewundert.“

Liebe M., du darfst nie unterschätzen, welche Wirkung solche Briefe haben, selbst wenn du keine Antwort bekommst. Macht ist eben arrogant. Ich hoffe trotzdem, dass ich dich überreden konnte, aktiv zu werden? Wie dem auch sei, lass es dir gut gehen.

Bis bald.

W.