Liebe M.,

Berlin, den 24. Dezember 2003

Weihnachten? Überall glitzert es und blinkt. Ich sehe Gold. Vor allem nachts. Ich muss die Vorhänge zuziehen, was ich sonst ja nie tue, damit die Lichter von der gegenüberliegenden Straßenseite mich nicht stören.

Dabei, liebe M., ist Schlafen doch so eine schöne Seligkeit. Weihnachten wegschlafen – du würdest das bestimmt nicht billigen. Für dich ist es das Fest der Freude. Genau so wie für den Taxifahrer neulich. Ich hab rausgekriegt, dass er ein in Tunesien geborener Muslim war: „Klar feiere ich Weihnachten. Beisammen sein, miteinander essen, reden – das ist das Wichtigste. Gut, die Kinder bekommen vielleicht auch ein kleines Geschenk“, meinte er. „Aha“, dachte ich, „der Mann hat sich zurechtgefunden in der multikulturellen Zwischenwelt.“ Aber da hält er mir schon einen Vortrag, dass die Christen keine Ahnung hätten von den anderen Religionen, dass die Juden Verbrecher seien und die Palästinenser keine andere Wahl hätten als zurückzuschlagen, weil die Welt nur auf der Seite der Zionisten stehe. „Eingeschränkte Sicht auf die Dinge“, meinte ich.

Am Ende haben wir uns angebrüllt, wie du dir vorstellen kannst. Bevor ich ausgestiegen bin, habe ich zu ihm gesagt, dass er von Miteinanderreden spreche und ich ja auch, dass wir aber schon bei unserem kurzen Taxigespräch gänzlich versagten. „Schöne Weihnacht!“

Hier hast du es, dein Fest der Freude und Kommunikation. Beisammensein, Reden – es könnte so schön sein. Aber in Berlin gibt es viele, die die Kommunikation an Weihnachten strategisch planen müssen. Stell dir vor, fast die Hälfte aller Wohnungen hier werden nur von einer Person bewohnt. „Single“, das ist trendy, aber „allein stehend“, das ist ehrlich.

Ich versuche dieses Jahr, wirklich ehrlich zu sein, deshalb fahre ich nicht zu Papa, sondern bleibe in meiner Wohnung, meinen Nest. Ab und zu schaue ich, ob ich das Handy überhört habe oder ob eine E-Mail gekommen ist. Manchmal reicht es ja, wenn ich nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter habe, um mich nicht allein zu fühlen. Geht es dir auch so?

Briefe kriege ich schon lange nicht mehr. Warum schreibst du denn nicht? Wenigsten ne Karte. So eine mit Ochs und Esel drauf oder mit ypsilonförmigem Tannnenzweig, auf dem eine brennende Kerze steckt zum Beispiel. Das wäre was.

Kannst du dich noch daran erinnern, wie solche Karten früher ins Haus geflattert kamen. „Gesegnete Weihnacht und ein gesundes neues Jahr“ stand in geschwungener Goldschrift darauf. Die Freunde und Verwandten setzten: „wünscht Familie Müller“ darunter. Oder ausführlicher „wünscht euch allen Tante Rikki aus Gelsenkirchen.“ Ganz Hartgesottene nutzten den freien Platz gar für ein persönlichen Satz. „Uns geht es gut. Nur der Opa Anderlech ist bettlägrig. Ihm bekommt das kalte Wetter nicht. Dafür erfreut er sich jeden Tag an seinem kleinen Enkel Augustin. Neulich hat er ihm lauter belgische Ortsnamen beigebracht. Wir glauben, die kennt er noch aus dem Krieg. Hoffen wir, dass sich im neuen Jahr alles zum Guten wendet. Eure Josefine.

Bei mir herrscht seit Jahren Ebbe im Briefkasten, und das, obwohl ich, wie du weißt, nie aufgehört habe, den Leuten wenigstens einmal im Jahr zu schreiben. Meistens um Weihnachten rum. Da nimmt es einem niemand übel, wenn man ins Sinnieren kommt.

Als Antworten bekomme ich Emails mit digitalen Postkarten, die singen können. „Silent night, holy night.“ Oder die noch kürzere Handy-Variante: „hi franzi, sing mir sanctus, carina“. Das hat mir meine Nichte gesimst. Da tröstet es mich auch nicht, dass Wissenschaftler nachweisen, dass Botschaften, die vermittelt werden, generell immer kürzer werden.

Ich meine, es ist ja nun auch wirklich nicht modern, einer Passion zu frönen, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte. Damals waren Weihnachtsbriefe, die gar nicht an Weihnachten eintreffen mussten, en vogue. Die Weihnachtspostkarte soll dem Ganzen ein Ende gesetzt haben, hab ich gelesen. Die erste gab es 1843, soweit bekannt. Ein englischer Beamter, kam vermutlich nicht zum Schreiben und ließ deshalb eine Karte drucken. „A Merry Christmas and a Happy New Year to You“ soll drauf gestanden haben.

Jetzt 160 Jahre später, steht in der allerneuesten Ausgabe des „Duden. Briefe schreiben – leicht gemacht“ unter „Weihnachtsbriefe“: „Schreiben Sie doch was Persönliches“. Wann, wenn nicht um die Feiertage habe man die Muse dazu.

Der Duden empfiehlt übrigens, einfach draufloszuschreiben. Find ich auch, obwohl ich mir vorstellen kann, dass der Ratschlag eine ganze Menge Leute in die größte Verzweiflung stürzt. Und zwar die, deren Handschrift durch das dauernde Herumhacken auf dem Computer langsam so versaut ist, dass sie sie noch nicht einmal mehr selbst lesen können. Das allein müsste schon ein Grund sein, wieder zum Stift zu greifen. Die Handschrift verlieren, das ist als würden meine blauen Augen plötzlich farblos!

Wie in einem Kreativ-Schreiben-Seminar bietet das Lexikon nebenbei auch noch passende Stichworte, die zum Schreiben inspirieren sollen: „Vorsätze, Ziele, Zukunft – Vergangenheit, Liebe, Geschenke, Glück.“ Ein Lexikon hat Autorität.

Für dich habe ich die Probe aufs Exempel gemacht: Liebe M., schon wieder ist ein Jahr vorbei. Wie das so schnell geht. Dabei hatte ich mir letztes Jahr vorgenommen, dich zu besuchen. Nun stehe ich vor den Scherben meines eigenen Vorsatzes. Was sich vielleicht nicht bis zu dir herum gesprochen hat: Die Liebe hat mich die letzten Monate aufgehalten. Ich habe im Sommer einen wunderbaren Menschen kennen gelernt, er hat mich mit seiner Zärtlichkeit reich beschenkt. Den Namen nenne ich nicht, denn schon im Herbst habe ich ihn wieder verloren. Kein Unfall, wir waren nur nicht die Richtigen. Ich hoffe, das neue Jahr bringt uns dauerhafteres Glück. Deine F..

Alles ist drin: Vorsatz, Ziel, Zukunft/Vergangenheit, Liebe, Geschenke, Glück. (Das mit dem Mann, das habe ich dir bisher absichtlich nicht erzählt, weil’s nicht so einfach ist. Immerhin, er und ich, wir mailen uns noch.)

Ich finde ja für eine Berlinerin wie mich bieten sich andere Stichworte für einen persönlichen Brief an. Solche wie: „Berlin, Leben in der Stadt, Schnelligkeit/Langsamkeit, Zeit.“ Das hab ich meiner lesbischen Freundin B. empfohlen, als sie mich fragte, was sie ihrer Tante, die zu alt für Handy und E-Mail ist, schreiben soll. Sie hat es probiert. Das Ergebnis wird mittlerweile von mehreren meiner Freunde als Muster benutzt: Liebe Tante A., schon wieder ist ein Jahr vorbei … ja, ich lebe immer noch gern in Berlin. Du hast es, wie ich weiß, nie bedauert, niemals hier gewesen zu sein. Gerne würde ich dir zu Weihnachen einen Satz schenken, der die Stadt erklärt. Ich versuch es: Berlin, das ist wie euer Dorf fünftausend mal multipliziert, dann durch den Fleischwolf gedreht und wieder neu zusammen gesetzt. – Oh Gott, ich seh ein, dass das nicht so einladend wirkt … Die Berlinerin an meiner Seite hat gelesen, was ich bisher geschrieben habe und ist entsetzt, nein sogar empört, dass ich ihre Stadt als Geburt aus dem Fleischwolf beschrieben habe. Immerhin käme sie als Punkt auf dem Globus vor. Stimmt wohl. Das kann man von deinem Dorf nicht behaupten …

Wie du siehst, liebe M, kann in einem Brief zum Jahresende eben Alles oder Nichts stehen. Mir jedenfalls gefällt B’s Brief an ihre Tante. Ich finde, solche selbst geschriebenen Zeilen sind ein Seismograf für die persönliche Beziehungen. Deshalb gebe ich die Schreiberei auch nicht auf. Menschen, mit denen man den Alltag teilt, bekommen Gespräche. Menschen mit denen der Alltag unter anderen Umständen vielleicht geteilt werden würde, bekommen Grüße. Von mir ein paar mehr als nur die, die in der Standardversion vorkommen. Sicher, du wirst sagen, das liege daran, dass ich ein extrovertierter Typ sei. Hat damit aber nichts zu tun. Dann könnte ich auch telefonieren oder e-mailen. Ich denke, es ist ein Geschenk, so mit den Leuten zu kommunizieren. Damit sie Spuren von mir haben. Einen Brief. Meine Handschrift. Meine chaotischen Ideen. Ein paar unausgegorene Weisheiten.

Ich streiche übrigens auch durch im Brief, wenn ich einen Gedanken auf zwei verschiedene Arten denke. Durchgestrichenes macht die Zeit sichtbar. Sowieso ist es mir gleich, wann die Briefe ankommen. Vor Weihnachten, zwischen den Jahren, im Januar. Ich verstehe die Briefe, die ich schreibe, als Geschenk. Das nimmt jeder gern, egal wann. Du auch, Oder? Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück für alles und allerwertvollste Grüße.

Deine W.

PS: Gestern hab ich wieder Kyslowskis Film „Blau“ aus der Drei-Farben-Trilogie gesehen. Als sie das Hohelied der Liebe singen, hab ich geheult. Was meinst du, soll ich mich auf den Mann vom Sommer doch noch einmal einlassen? Komm doch wieder mal nach Berlin. Ich hätte so gern deinen Rat. W.