Über spät blühende Bahntrassen

Mit einer Bestmarke endete gestern die Premierenfahrt auf der ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Hamburg und Berlin: Die versprochenen eineinhalb Stunden werden um eineinhalb Minuten unterboten. Bahnchef Hartmut Mehdorn im Glück

Das Fachmagazin ‚Bahn-Report‘: „Selbst in den wenigen Kurven schwappt der Kaffee nicht aus dem Becher“

von Sven-Michael Veit

88 Minuten und 19 Sekunden sind es geworden. Um 12:34:19 Uhr endete gestern im Berliner Bahnhof Zoo die Premierenfahrt des ICE-T auf der neuen Rennstrecke zwischen Hamburg und Berlin. Eineinhalb Minuten früher als geplant. Bahnchef Hartmut Mehdorn ist der Stolz ins Gesicht geschrieben: „Eine Rekordfahrt“, jubelt er. „Wir waren pünktlich mit dem Bau fertig, und heute waren wir pünktlich hier.“ Jetzt, mit dem Fahrplanwechsel, soll die Höchstmarke zum Standard im Zwei-Stunden-Takt werden.

Eineinhalb Stunden lautet die Zielvorgabe, die Mehdorn auf dem Hamburger Hauptbahnhof vor der pünktlichen Abfahrt um 11.06 Uhr bekräftigte. Die Unterschreitung um eineinhalb Minuten bringen ihn an den Rand der Glückseligkeit bei der nachmittäglichen After-Work-Party, die aus Platzgründen vom Bahnhof Zoo auf den Berliner Ostbahnhof verlegt wurde. Den Prominenten ist das egal, Hauptsache feiern.

„Das ist ja fast eine Vorortverbindung“, schwelgt Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust (CDU) schon vor dem Start, die beiden größten deutschen Städte „rücken zusammen auf Pendlernähe“, echot sein Berliner Kollege Klaus Wowereit (SPD) am Zielbahnhof. Zum „Kernstück im transeuropäischen Netz“ erklärt Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) die Verbindung und stellt ihre Fortführung in Aussicht. Leipzig und Prag seien die nächsten Kandidaten, „um zu verhindern, dass wir ersticken auf den Straßen“.

Auch Mehdorn vergisst nicht, die Umweltfreundlichkeit und Tierliebe seines Unternehmens herauszustreichen. Vier Monate ruhten im Sommer 2003 auf 50 Kilometer Länge vor der brandenburgischen Kleinstadt Prignitz die Bauarbeiten – bis der Nachwuchs des unmittelbar an der Strecke brütenden Seeadlerpärchen flügge war.

In ungewöhnlich zügigem Reisetempo durchquert der ICE „Freie und Hansestadt Hamburg“ am Vormittag bereits die Vororte der Elbmetropole, Hamburg-Bergedorf passiert er „mit 189 Stundenkilometern und sechseinhalb Minuten früher als bisher üblich“, wie die freundliche Frauenstimme aus den Lautsprechern verkündet. Im dichten Nebel huschen Sachsenwald und Friedrichsruh mit dem Bismarck-Mausoleum vorbei. In rund sieben Stunden hatte Fürst Otto seinerzeit vom Bahnhof vor seinem Schloss zum Kaiser in die Hauptstadt dampfen können, 106 Jahre nach dem Tod des Eisernen Kanzlers rauscht das neueste Produkt deutscher Rad-Schiene-Technologie mit Tempo 202 vorbei.

Kein Blick auch auf Reinbek, das hinter meterhohen graugrünen Lärmschutzwänden verborgen bleibt. Die 24.000-Einwohner-Stadt (siehe Interview) liegt jenseits der Wahrnehmbarkeit, ebenso wie wenige Minuten später die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Mit der Spitzengeschwindigkeit von 230 km/h durchdringt der schnellste ICE der Deutschen Bahn die Stelle jahrzehntelanger Undurchlässigkeit und beginnt seine Tempojagd durch die flachen Wiesen und Felder Mecklenburgs und Brandenburgs. Fast schnurgerade bis nach Berlin-Spandau, nur in einigen Bahnhöfen unterwegs zeigt das Display weniger als 200 Kilometer an. Selbst in den wenigen leichten Kurven „schwappt der Kaffee nicht aus dem Becher“, lobt der Henning Eggers vom Fachmagazin „Bahn-Report“ den „angenehmen Fahrkomfort“.

Runde 650 Millionen Euro hat die dreieinhalb Jahre dauernde „Ertüchtigung“ der Gleise zwischen Haupt- und Hansestadt gekostet. Das meiste Geld verschlang die Beseitigung der Bahnübergänge. Allein aus Sicherheitsgründen mussten 56 Gleisquerungen ersetzt werden. Wo sich früher Schranken unter Gebimmel über die Straßen senkten, zieren nun Tunnel oder Brücken die Ortschaften und Städte – Voraussetzung für das Rekordtempo angesichts eines Bremsweges von 2,5 Kilometern.

Auch diverse Bahnhöfe wurden modernisiert und zum Teil aufwändig umgebaut. Sicherheitsgitter trennen nun auf Bahnsteigen ihrer Regionalbahn Harrende vom durchrasenden ICE. Der Fahrtwind könnte, so die nicht unbegründete Angst, vor allem Kinder von den Beinen werfen. Und die will auch Mehdorn pfleglich behandeln, seien sie doch „die Passagiere von morgen“. Und er wolle „nicht nur heute, sondern auch in Zukunft zufriedene Kunden produzieren“, formuliert der Bahnchef im besten Manager-Idiom.

Diese Worte hätten die Passagiere des ICE 1519 mit Interesse vernommen. Ihr Zug startete gestern fast zeitgleich mit der Premierenbahn planmäßig um 10.40 von Hamburg in Richtung Berlin, kam dort aber nie an. Wegen technischer Probleme mussten die Passagiere in Ludwigslust in einen anderen Zug umsteigen und erreichten Berlin mit mehrstündiger Verspätung. Als Versöhnungsangebot bekamen sie Reise-Gutscheine.

Ein Trost für Mehdorn: Sein Premierenzug fährt um 17.44 wieder in den Hamburger Hauptbahnhof ein. Eine Minute früher als geplant.