Anstiftung zum Sozialneid

Das SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Vielleicht sollte man die Armut in Vorbereitung auf die nahe Zukunft in „Verzichtskultur“ umbenennen

Das Kind hat „Manche mögen’s heiß“ gesehen und ist seitdem der Meinung, Millionäre sind etwas, das nur ganz, ganz selten vorkommt. Eigentlich bloß in Florida. Daran konnte auch Jauch nichts ändern. Ach was, erklärten wir mit typisch elterlicher allwissender Überheblichkeitsgeste, davon gibt es Millionen. War es nicht so: wir haben über eine Million Millionäre in Deutschland?

Man sollte sich das wirklich einmal merken. Menschen mit gutem Zahlengedächtnis haben einen ganz anderen Wirklichkeitsbegriff. Seltsamerweise schien das Kind enttäuscht. Es hatte seine Eltern bis jetzt nicht direkt für Versager gehalten. Aber wenn es in diesem Land Millionäre gibt wie Sand am Meer – was sind dann Menschen, die das nicht schaffen? Völlig unauffällige, graumäusige Allerwelts-Sandkörner?

Weihnachten ist kein gutes Datum, um ganz sachlich und vorurteilsfrei über Millionäre zu reden. Weihnachten ist das millionärsfeindliche Fest per se. Das ist mindestens seit Charles Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ so. Oder noch länger. Als der Sozialneider, der heute Geburtstag hat, die Nadelöhr-Folter für Besserverdienende erfand. Weihnachten kommen die Millionäre nur als Mr. Scrooges vor. Überhaupt als Mitbürger von unvorteilhaften, sackartigen Körperformen. Als Menschen eben, in deren helle Fenster kleine Mädchen mit Zündholzschachteln in nicht jahreszeitgerechten Kleidchen blicken müssen, um dann mitten in der Heiligen Nacht zu erfrieren. Nun gibt es immer mehr Menschen, die nicht bereit sind, das hinzunehmen. Höchste Zeit, diese Weihnachtsgeschichten einmal ideologiekritisch zu lesen. Ist das nicht Anstiftung zum Sozialneid?

In postkommunistischen Gesellschaften ist der Sozialneid besonders verbreitet. Die russischen Millionäre fliehen gerade massenhaft nach London und kaufen da sämtliche Clubs auf. Bald wird ihnen halb Großbritannien gehören, aber bis jetzt haben die Londoner Russen noch keine russenfeindlichen Stimmen gehört. In Russland schon. Immerzu. Nicht nur, dass so ein russischer Multimultimultimillionär das ganze russische Elend ringsum angucken muss; er soll auch noch ein schlechtes Gewissen haben. Und Angst, dass er enteignet wird.

In der Mitte zwischen Moskau und London liegt Berlin. Eigentlich gehört es eher zu Moskau. Man erkennt das an der Regierung. Sonst hätten der Kanzler und sein Bundestagspräsident nichts über die Gehälter der Vorständler gesagt, nur weil die im letzten Jahr um 7,4 Prozent gestiegen sind. Und ausgerechnet kurz vor dem großen Gleichmacher-Fest haben die das gesagt, wenn wir für drei Tage den letzten Penner irgendwie gottähnlicher finden als einen Besserverdienenden. So ein Unternehmensvorstand muss jetzt im Jahr mit durchschnittlich 1,25 Millionen Euro auskommen. Der Kanzler und sein Bundestagspräsident finden das „obszön“. Die ersten und die letzten Dinge im Leben sind eben doch Geschmacksfragen. Die „Verzichtskultur“, haben sie gesagt, müsse in den oberen Etagen beginnen, wenn das Land gesunden solle.

In London wäre das nicht passiert. Und in Amerika auch nicht. Dort kommen fast nur Millionäre in die Regierung. Und jeder normale McDonald’s-Amerikaner findet das gut so. Die Amis sind nämlich viel cleverer als wir und sagen sich: Wer so reich ist, der kann nicht ganz doof sein! Und natürlich ist es wichtig, keine ganz doofen Politiker zu haben. Wahrscheinlich hätte Heiner Geißler in Amerika keine Chance. Mit Büchern wie „Was würde Jesus heute sagen?“ auf der Bestsellerliste erscheinen! Das kann man nur hier schaffen. Nicht weil Deutschland so christlich ist, aber weil es so offen ist für prokommunistische Betrachtungsweisen der Wirklichkeit wie die des heutigen Jubilars.

Aber „Verzichtskultur“ ist wirklich ein schönes Wort. Vielleicht sollte man die Armut in „Verzichtskultur“ umbenennen. Wir müssen uns auf die Zukunft vorbereiten, die schon in einer Woche anfängt. Wenn so ein neuer integrierter arbeitsloser Sozialhilfeempfänger West 345 Euro Einheitsgage bekommt. Ein Gehalt, das man nicht selbst erhöhen kann, ist sowieso fragwürdig. Deshalb liegt der eigentliche Vorzug der Existenzform des Spitzenmanagers gegenüber dem Sozialhilfe empfangenden Arbeitslosen darin, dass der Manager selber bestimmt, wie viel er zum Leben braucht. Das ist dann fast schon Kommunismus.

Weihnachten ist wirklich ein ziemlich antikapitalistisches Fest. Bloß früher in der DDR haben wir das nie gemerkt. Die DDR hat es ja auch nicht gemerkt. Vielleicht, weil sie von Weihnachten einfach überfordert war. Die „Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Waren täglichen Bedarfs“ ging schon über ihre Kräfte, wenn nicht Weihnachten war. Darum war ihr und uns völlig entgangen, dass Weihnachten ein dreitägiges Festival der Solidarität ist. Immer, wenn eine Sache gerade verschwindet, versteht man, was sie eigentlich war. Und jetzt verschwindet gerade die Solidarität.

Das Wort gehörte auch zu den Vokabeln, die ein DDR-Kind nicht mehr hören konnte. Die Welt war voll von Soli-Basaren, Soli-Beiträgen, Soli-Marken, Soli-Aktionen. „Soli“ – merkwürdiges Ego-Wort zur Bezeichnung des Gegenteils. Wie alt heute jemand ist, der aus der DDR kommt, lässt sich an den Haupt-Solidaritätsaktionen ablesen, an denen er teilnahm. Zuerst leisteten wir Solidarität mit Angela Davis, dann mit Louis Corvalan. Später haben wir gar nicht mehr so richtig mitbekommen, mit wem wir gerade solidarisch waren. Die Staatschefs wichtiger Länder haben immer viel Post bekommen von den Pionieren und FDJlern der DDR. Am meisten Post bekam wohl der US-Präsident.

Der Sozialneider, der heute Geburtstag hat, erfand die Nadelöhr-Folter für Besserverdienende

Das Schlimmste an der Solidarität aber war, dass sie nicht kritisierbar war. Sie war einfach nur gut. Das machte sie verdächtig. Die Partei der Arbeiterklasse benahm sich immer so, als hätte sie die Solidarität erfunden. Dabei gab es die Solidarität schon immer. Die Städte im Mittelalter waren reine Solidargemeinschaften. Man leistete einen Schwur, zusammenzustehen. Gegen die Räuber vor den Toren, gegen andere Städte. Solidarität ist ein Innigkeitsverhältnis. Eins ohne sofortige Entlohnung. Es setzt genau dann ein, wenn das „Jeder hilft sich allein“ nicht mehr genügt. Es signalisiert, dass Menschen auf Menschen angewiesen sind. Meistens brauchte diese Solidarität ein Feindbild. Man war sich ganz nah – gegen die anderen. Das war auch bei der proletarischen Solidarität noch so. Weil es zu viele Scrooges gab auf der Welt.

„Freiheit statt Sozialismus!“ ist natürlich ein selten dämlicher Spruch. Denn eigentlich bedeutet er doch: Freiheit statt Solidarität. Und zwischen beiden schwingt nun einmal die Conditio humana. Das Drama des Sozialismus war das Drama der Solidarität. Weil Innigkeitsverhältnisse in Großgesellschaften Erpressung sind. Darum dauert Weihnachten auch nur drei Tage. Länger würden wir es gar nicht aushalten. Will man auf die Solidarität eine Gesellschaft bauen, die größer ist als eine Dorfgemeinschaft, zeugt sie Janusköpfe: einer davon war die Staatssicherheit.

Aber Freiheit ohne Solidarität? Eine Gesellschaft, in der niemand mehr für niemanden verantwortlich ist? Irgendwann wäre dann nicht nur der Plus-7,5- Prozent-Manager, sondern auch Weihnachten obszön.

Fotohinweis: Kerstin Decker ist Autorin. Sie lebt und arbeitet in Berlin