Ohne Phantasie und Arbeit

Arbeit wird überall abgebaut, gleichzeitig werden Wochenarbeitszeit und Rentenalter heraufgesetzt. Müssen sich die Meisten auf eine Zukunft ohne Arbeit einstellen? Eine sonntägliche Diskussion

Bremen taz ■ Seit den 70er-Jahren nehme er regelmäßig an Debatten über Arbeitslosigkeit teil, gestand der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, alle fünf Jahre gebe es eine neue Theorie. Genutzt habe es wenig. Am Sonntag hatte das Theater geladen, die alte Frage mit dem bedrohlichen Unterton „Zukunft ohne Arbeit?“ zu stellen. Gekommen waren neben Hickel der taz-Mitbegründer und langjährige Redakteur Martin Kempe, heute bei der verdi-Zeitung „publik“ beschäftigt, der Präses der Handelskammer, Patrick Wendisch, und Hickels Kollege vom Institut für Arbeit und Wirtschaft, Helmut Spitzley.

Spitzley wollte die Runde mit einer schlichten Feststellung provozieren: Um mit der traditionellen Denkweise die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland zu beseitigen, wäre über mehrere Jahre ein Wachstum von sechs Prozent jährlich erforderlich. Davon wage aber niemand zu träumen, folglich müsse man umdenken. Wendisch wollte nicht umdenken, er forderte, sich den Folgen der Globalisierung zu stellen. Wenn Flächentarife sich an den produktiven Sektoren des verarbeitenden Gewerbes orientierten, hätte der Dienstleistungssektor das Nachsehen, meinte er. Zum Beispiel: Die Lohnkosten seien so, dass viele sich die Putzhilfe oder den Handwerker nur schwarz leisten können. Niedriglohnsektoren und Flexibilisierung seien wichtig.

Kempe verwies darauf, dass gerade im Dienstleistungssektor vieles privat nicht finanzierbar sei. In Bereichen wie Kindererziehung und Pflege müsse der Staat mehr ausgeben. Ob er die Mittel dafür bekomme, sei eine Frage der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit.

Hickel verwies darauf, wie gespalten die Lage sei: Deutschlands Außenwirtschaft boome, das Land sei reich wie nie zuvor. Die 30 größten DAX-notierten Unternehmen hätten 2004 30 Prozent mehr Gewinn gemacht als im Vorjahr und zugleich 80.000 Arbeitsplätze abgebaut. Allein die Binnennachfrage komme nicht in Gang. Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich sei daher auch ökonomisch der falsche Weg.

Auch die Gesellschaft sei reich wie nie, fügte Spitzley hinzu. Wenn dieses hohe Niveau nun von einem Jahr auf das nächste mit einem Wachstum von 0,5 Prozent noch übertroffen werde, dann sei dies immer noch viel und nicht zu wenig Wachstum. Die Vorstellung, durch Wachstum die Arbeitslosigkeit zu überwinden, sei die Lebenslüge der Gewerkschaften. Das Leitbild sei falsch, wenn das hohe Niveau des Lebensstandards als Krise definiert werde, nur weil es nicht noch weiter wachse. Die Gesellschaft habe sogar den Reichtum, vier Millionen, die nicht arbeiten, leidlich zu ernähren. Wenn die Stahlwerke Bremen aber ihre Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden erhöhen würden, wären 600 Stellen bedroht. Es müsse vielmehr darum gehen, die Arbeit fair zu verteilen. Ein Steuer- und Sozialsystem, das von einer 32-Stunden-Woche als Norm ausgehe, könne eine „Vollbeschäftigung neuen Typs“ bringen.

Den meisten sei eine Lohnabsenkung nicht zuzumuten, wandte Hickel ein. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnabsenkung sei aber nicht denkbar, entgegnete Wendisch. Und er formulierte vorsichtig die Alternative zum Umdenken: dass sich die Gesellschaft an eine größere Zahl von Arbeitslosen gewöhnen müsse. In den letzten 2.000 Jahren, so der Handelskammer-Präses, habe es meistens eine Vielzahl an Menschen gegeben, die nicht ins Erwerbsleben hätten integriert werden können. kawe