Das Kitastrophenjahr

Chronik eines angekündigten Desasters: Beim Kita-Gutscheinsystem ging alles schief, was schief gehen konnte. Bildungsbehörde wusste schon vor einem Jahr, dass es im Herbst 2003 einen Gutscheinstopp geben würde

Das Gutscheinsystem wird 40 Millionen Euro teurer bei fast gleicher Zahl an Kita-Plätzen

von KAIJA KUTTER

Manche ahnten das Polit-Debakel des Jahres schon im Voraus. Im Herbst 2002 fordert der SPD-Politiker Thomas Böwer in der taz die Kita-Verbände auf, bei dem für August 2003 geplanten Kita-Gutscheinsystem nicht mitzumachen und die Sache um ein Jahr zu verschieben, bis Ausbaumittel aus Berlin bereitstünden. Denn ein Gutscheinsystem, so war Böwer überzeugt, könne nur mit einem Investitionsprogramm funktionieren. Doch die Warnungen werden überhört.

Stattdessen einigen sich die Wohlfahrtsverbände und Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) hinter verschlossenen Türen auf höhere Pflegesätze und weitere Zugeständnisse, die das Risiko eines Wechsels zur Marktwirtschaft mildern sollen. Bereits am 4. Dezember 2002 gibt es Warnungen aus dem Kita-Amt an die Behördenspitze, dass das Budget überstrapaziert ist und es im Herbst 2003 einen Gutscheinstopp geben könnte.

Nichts von all dem dringt zunächst nach außen, Lange verteilt bunte Werbe-Flyer. Das Kita-Gutscheinsystem, so die Argumentation, sei gerade in Zeiten des Mangels sinnvoll, da es die Mittel effizienter einsetze und dafür sorge, dass mehr berufstätige Eltern als bisher mit Kita-Plätzen versorgt würden. Das Gegenteil tritt ein, wie sich später herausstellt.

Doch bevor das Gutscheinsystem von der Bürgerschaft beschlossen wird, finden im Januar und Februar zwei öffentliche Anhörungen statt. Die Träger fordern längere Schonfristen für Kita-Kinder, deren Eltern das neue Anspruchskriterium der Berufstätigkeit nicht erfüllen. Mit gewissem Erfolg. Am 21. Februar erklärt der Senat, dass alle Kinder eine Gnadenfrist bis zum Jahresende erhalten. Doch mehr Geld wirbt Lange dafür nicht ein, obwohl intern das Finanzloch bereits auf 18 Millionen Euro taxiert wird.

Am 19. Mai unterzeichnen die Kita-Verbände und Lange feierlich im Rathaus die Vereinbarungen fürs neue System. Der Wohlfahrtsverband „Soal“ berichtet, man habe wenige Tage zuvor in der Software einen Kalkulationsfehler endeckt, der kleinen Einrichtungen „zig Millionen Verluste“ gebracht hätte. In der Behörde wird alsbald ein weiteres Defizit von mindestens 9,9 Millionen Euro bekannt.

Während die Bezirke unter Mühen die ersten 40.000 Gutscheine an all jene Eltern verschicken, die bereits einen Kita-Platz haben und ihn auch erst mal behalten sollen, wird der erste „Wartelistensuchlauf“ für Erstantragsteller wieder und wieder verschoben. Angeblich wegen „Controlling-Problemen“, doch in Wahrheit fehlt das Geld. Die Sache wird peinlich. Anfang Juni schließlich geht Senator Lange zu Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU) und erbittet 19,5 Millionen Euro, um „Altlasten“ zu begleichen. Das Geld reicht aber nur für einen Teilwartelistensuchlauf. Rund 2.000 Schulanfängerkinder bekommen jetzt einen Hortplatz, 3.900 berufstätige Eltern jüngerer Kinder, die ab August einen Krippen- oder Kita-Platz brauchen, gehen leer aus, werden aber darüber nicht aufgeklärt. Am 20. Juni erklärt Lange, diese Anträge würden „voraussichtlich positiv beschieden“. Sein eigenes Amt für Kindertagesbetreuung fragt sich, wie Lange das finanzieren will.

Der bleibt die Antwort schuldig. Als das Gutscheinsystem am 1. August startet, werden alle diese Eltern auf September und schließlich Oktober vertröstet, dem Zeitpunkt, an dem nicht eingelöste Gutscheine storniert würden. Doch der Suchlauf findet auch dann nicht statt, denn die Kasse ist noch immer leer. Anfang Oktober wird ein Gutscheinstopp verhängt, Ende jenes Monats kommt das zweite Kita-Loch ans Tageslicht. Die Rede ist zunächst von 14, später von 18 Millionen Euro, die allein fehlen, um die belegten Kita-Plätze zu finanzieren.

Senator Lange ist nicht mehr zu halten. Am 17. November tritt er zurück. Nachfolger Reinhard Soltau soll nächsten Dienstag zusätzliche 20,2 Millionen Euro bewilligt bekommen. Damit wird das Gutscheinsystem 40 Millionen Euro teurer bei fast gleicher Platzzahl.

Am 2. Dezember feiert die SPD ihr Volksbegehren für den Kita-Ausbau als Riesenerfolg: 170.000 Menschen haben unterschrieben, dass das Gutscheinsystem ein schlechtes System ist.