Zur Einschulung einen Paten

Drittklässler sitzen direkt neben Erstklässlern und lernen mit ihnen – im Schulalltag der Olfener Wieschhof-Grundschule ist das die Normalität

Viele Kinder weinen sogar, weil sie nicht in die Schulferien gehen wollen

AUS OLFENNATALIE WIESMANN

Das kleine Dorf Olfen, am südlichen Rand des Münsterlands, ist die Brutstätte einer Schulrevolution. Die hellgraue Beton-Fassade der katholischen Wieschhofschule, leicht aufgeheitert durch ein paar Farbelemente, lässt dies zwar nicht vermuten. Doch drinnen fällt gleich etwas auf: Es dringt kaum Lärm aus den Klassenzimmern.

Im Kunstunterricht von Sandra Brune sind die Kinder damit beschäftigt, für das Mai-Kalenderblatt einen Marienkäfer zu basteln. An den Wänden hängen Lebensläufe und ausformulierte Referate. Die Tische sind mit Lampions geschmückt. Was erst auf den zweiten Blick auffällt: An den Tischgruppen aus acht SchülerInnen, sitzt neben jedem Drittklässler ein Erstklässler. Und das jeden Tag. „Ich wollte nie wieder anders unterrichten“, strahlt Lehrerin Sandra Brune, die erst Anfang des Schuljahrs zum ersten Mal eine so genannte 3/1-Klasse übernommen hat.

Das Schulmodell 3/1 und 4/2, das die münsterländischen Schule seit vier Jahren praktiziert, gibt es nur an einer Handvoll Schulen in Nordrhein-Westfalen. Die Klassen sind zusammengesetzt aus SchülerInnen, von denen die eine Hälfte zwei Jahre älter ist als die andere. Jedem jüngeren Kind ist ein älteres als Pate oder Patin zugeordnet. Meistens behandelt die ganze Klasse dasselbe Thema, jedoch mit unterschiedlich schwierigen Aufgaben dazu. In manchen Phasen lernen die Jüngeren einen anderen Stoff als die Drittklässler, können sich aber bei ihrem Paten Rat holen.

Die 8-jährige Franziska wurde von der Erstklässlerlin Katrin zur Patin auserkoren, die „Partnerwahl“ liegt grundsätzlich bei den Jüngeren. „Manchmal nervt sie, weil sie nicht zuhört“, sagt Franziska über ihr Patenkind. Katrin schaut kurz von ihrem Kalenderblatt auf und fragt Franziska: „Hättest du mich denn überhaupt ausgewählt?“ Jaaaha, antwortet Franziska und rollt ihre Augen, dann lächelt sie aber und wirft Katrin einen liebevollen Blick zu. Auch im nächsten Jahr, wenn sie in die vierte Klasse kommt, wird sie für Katrin verantwortlich sein.

Die Mehrarbeit, die sich LehrerInnen aufbürden, wenn sie verschiedene Aufgaben für die Kleinen und die Großen ausarbeiten, führt an anderer Stelle zur Entlastung. „Ich muss mich kaum um lapidare Sachen kümmern“, sagt Brune. Die PatInnen helfen den Neulingen, sich zu orientieren und klären sie über die wichtigsten Verhaltensregeln auf. Oft reicht es aber aus, wenn die Jüngeren bei den Älteren abschauen, wie auch in dieser Kunststunde. Der sechsjährige Christian beobachtet neugierig, wie sein Pate Simon die schwarzen Krepppapier-Punkte auf den roten Körper aufklebt und greift dann selbst zum Klebstift. Auch wenn sein Marienkäfer dann nicht ganz so perfekt aussieht, wird er von Simon gelobt.

Genau dieser Altersunterschied von zwei Jahren sei es, der den Kindern zu solch einer inneren Ruhe verhelfe, ist Rektor Theo Goebel überzeugt. „Der ständige Konkurrenzkampf zwischen den Gleichaltrigen fällt in diesen Klassen so gut wie weg“. Und er kann die Systeme vergleichen: Bisher sind nur 175 seiner 650 SchülerInnen in einer solchen Reformklasse. Die Älteren formten durch ihre Erklärerrolle ihre Rhetorik und festigten ihr Wissen. Die Kleinen seien wissbegieriger als in den Jahrgangsklassen und viel disziplinierter. „Ruhige Schüler können auch besser lernen, so Goebel. Individuelle Förderung sei in diesem Modell am besten möglich: „Bei uns fällt keiner durchs Netz“, sagt er.

Seine Schulreform macht nicht vor den so genannten „harten Fächern“ halt: Im Deutschunterricht nebenan hat die Lehrerin den Kindern aus „Die kleine Hexe“ vorgelesen. Jetzt versuchen beide Altersgruppen die Geschichte aufzuschreiben, die Ansprüche an die Ergebnisse sind natürlich unterschiedlich hoch. In der letzten halben Stunde werden die Gruppen getrennt. Die Kleinen lernen den neuen Buchstaben H, während die Drittklässler sich gegenseitig Worte mit H diktieren: „GE-HEN“, „WOH-NUNG“. Ab und zu ist ein Lachen zu hören, einzelne Schüler laufen zur Lehrerin oder zu ihrem Paten und lassen sich etwas erklären. Die Gespräche sind gedämpft – eine ideale Atmosphäre zum Lernen.

„Unsere Kinder sind so glücklich“, sagt die Sprecherin der Elterniniative „Pro 3/1“, Barbara Voß, mit Dauereuphorie in der Stimme. Ihre Tochter, die bis zum zweiten Schuljahr eine Regelklasse besuchte und erst in der dritten Klasse in das 3/1-Modell eingestiegen ist, habe jetzt viel mehr Interesse an Schule. „Sie hat sich früher oft unterfordert gefühlt. In der neuen Konstellation kann sie ihr Wissen an die Jüngeren weitergeben.“ Die etwas zurückhaltendere Elisabeth Maikötter ist sehr froh, dass ihrer ebenso schüchternen Tochter Stefanie bei ihrer Einschulung eine Patin zur Seite gestellt wurde: „In einer reinen Jahrgangsklasse hätte sie nie den Mund aufgemacht“, ist sie sich sicher. „Bei meinem Sohn ist es anders herum“, wirft die dritte Mutter, Ines Lechenit, ein. Das Temperament des Zweitklässlers sei früher kaum zu bändigen gewesen. „Die Schule hat ihn ausgeglichen“. Wie man sich zu verhalten hat,sei außerdem besser über die älteren Mitschüler zu vermitteln als über die Lehrer. „Wenn einer sieben mal den Clown spielt und ihn sein Pate zurecht weist, wirkt das besser“, sagt Lechenit.

Die Mütter beobachten, dass zwischen den Ungleichaltrigen richtige Freundschaften entstehen. „Die Einser und die Dreier laden sich gegenseitig zum Geburtstag ein“, freut sich Maikötter. Den Kindern würde die Schule so Spaß machen, dass sie sich dagegen sträubten, nach der Schule nach Hause zu kommen. „Und sie weinen, weil sie keine Ferien haben wollen“, sagt Maikötter und die beiden anderen Mütter bestätigen durch ihr Nicken diese doch sehr ungewöhnliche Aussage.

Den Tränen nahe waren auch die Eltern und LehrerInnen des 3/1-Modells, als sie vor zweieinhalb Monaten erfuhren, dass es ihr Schulsystem in Zukunft nicht mehr geben sollte. Denn das Olfener Modell sei nicht kompatibel mit der neuen Grundschulreform, (siehe Kasten), bügelte das Ministerium das 3/1-System ab. Die Elterninitiative schrieb Briefe, ging an die Medien, um „die beste Schulform, die es gibt“, zu retten.

Die Großen werden rhetorisch besser, die Kleinen bekommen Lust aufs Lernen

Wenn die Ministerin Ute Schäfer (SPD) auf der vergangenen Schulausschuss-Sitzung mit ihrem Verbot nicht zurückgerudert wäre, hätten die Mütter weiter gekämpft: „Ich wäre bis Jerusalem gelaufen“, sagt Elisabeth Maikötter. Auch Ines Lechenit hätte sich hinterher nicht von ihrem Sohn vorwerfen lassen wollen, dass sie aufgegeben hätte: „Wir müssen unseren Kindern doch zeigen, dass es sich lohnt, für wichtige Dinge zu kämpfen“, findet sie. Barbara Voss, die Anführerin, will „immer daran geglaubt“ haben, dass die Minsterin sich eines Besseren belehren lassen würde. „Das System ist das Non-Plus-Ultra, es gibt nichts Besseres für unsere Kinder“. Und Voss ist davon überzeugt, dass nur das 3/1 und 4/2-Modell die Kinder in Deutschland aus der Bildungsmisere führen wird.

Die Ministerin hat sich das Modell nie angeschaut, zum Bedauern der Schule. Dafür haben über hundert GrundschullehrerInnen aus ganz NRW an der Wieschhofschule hospitiert. Und auch ein Wissenschaftler der Uni Münster hat sich in das Modell verliebt: Der Pädagogik-Dozent Hasko Schneider ist der Überzeugung, dass die vom Schulministerium angestrebte individuelle Förderung sich besser in dem Olfener System umsetzen lasse als in den Vorschlägen aus Düsseldorf. Weil der Altersunterschied von zwei Jahren die Helferrolle der Älteren viel klarer mache. Ein entscheidender Vorteil sei außerdem, dass die Kinder konstant beim gleichen Lehrer blieben und auch in der Zusammensetzung der Klasse nur einmal einen Bruch erführen – wenn die Zweitklässler in die dritte Klasse kommen und die Patenschaft für frisch Eingeschulte übernehmen.

Trotz aller Euphorie stellt sich die Frage, ob solch ein System auch überall funktionieren könnte. Olfen ist kein „sozialer Brennpunkt“, die soziale Herkunft der SchülerInnen nicht repräsentativ für die meisten Schulen im Land. „Unser Modell würde sich besonders gut für Schulen mit einem großen Migrantenanteil eignen“, ist sich Lehrerin Brune sicher, die zuvor an einer solchen Schule in Dortmund ihr Referendariat gemacht hat. „Das 3/1-Modell könnte bei Sprachschwierigkeiten von Migrantenkindern eine große Hilfestellung sein.“ Brune könnte sich vorstellen, dass dies effektiver sei als gesonderte Sprachförderung.

Ob das 3/1 und 4/2-Modell sich irgendwann flächendeckend ausbreitet, wie es sich die Akteure aus Olfen wünschen, lässt sich schwer prognostizieren. Das Ministerium hat sich unter dem Druck der Grünen und schließlich nach einem Antrag der Oppositionsparteien bereit erklärt, bewährte Modelle unter Beobachtung erst einmal weiter laufen zu lassen. Man wolle innovative, bewährte Systeme nicht „mit der Brechtstange“ unterbinden, lautet die aktuelle Aussage aus dem Schulministerium.