„Ich träume von einer Schule für alle“

Aber eine Gemeinschaftsschule sei derzeit nicht durchsetzbar, meint Bildungssenator Klaus Böger (SPD). Daher setzt er nun auf interne Reformen. Schulen mit hohem Migrantenanteil sollen mehr Geld bekommen und mit Quartiersmanagern kooperieren

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Herr Böger, träumen Sie mal: Wenn Sie ein neues Schulsystem schaffen könnten, wie viele Schulformen hätte es?

Klaus Böger: Eine, eine für alle Kinder. Es wäre eine überschaubare Schule, in der es zwischen Lehrern, Erziehern und sonstigem pädagogischem Personal keine komplizierten Tarifwerke gibt, sondern einen Commonsense, dass man sich gemeinsam um die Kinder kümmert. Es wäre eine Schule mit viel Selbstständigkeit und Freiheit, die sich aber auch Evaluationen und Tests unterzieht. Sie würde mit fünf Jahren beginnen und wäre immer eine Ganztagsschule.

Das entspricht nicht gerade dem dreigliedrigen deutschen Schulsystem. Warum verweigern Sie sich trotzdem jeder Strukturdebatte?

Ich verweigere mich nicht. Aber aus den Ergebnissen der Pisa-Studien kann man nicht stringent ableiten, dass die integrative Schule der gegliederten per se überlegen ist.

Pisa zeigt aber: Länder, die sowohl gute Ergebnisse erzielen als auch Chancengleichheit für alle Kinder bieten, haben integrative Systeme.

Aber auch andere Länder mit gegliedertem Schulsystem schneiden gut ab. Wir haben in Berlin und Brandenburg ja sogar die sechsjährige Grundschule. Ich habe die Strukturdebatte über die Gesamtschulen in den 70er-Jahren erlebt. Das wirkt nach. Am Ende gab es vor allem unversöhnliche Positionen. Hierzulande jetzt eine Gemeinschaftsschule einzuführen hat gesellschaftspolitisch keine Chance.

Entscheidend ist eine Veränderung des Unterrichts – da sind sich alle Fachleute einig. Wie soll an der Hauptschule, wo man alle schwierigen Schüler in eine Klasse steckt, ein positives Lernklima entstehen?

Die 60 Berliner Hauptschulen haben sich auf diesen mühsamen Reformweg gemacht. Wir brauchen dafür Personal – nicht unbedingt mehr Lehrer, sondern Sozialarbeiter – und eine engere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Patentlösungen gibt es nicht.

Zwölf Prozent aller Kinder in Berlin gehen auf die Hauptschule. Jeder Dritte macht keinen Abschluss. Und der Rest hat auch keine Chance.

Ja, das ist ein schlimmer Zustand, den wir nicht akzeptieren dürfen, sondern ändern müssen.

Pisa II hat gezeigt: Der Fortschritt geht an den Hauptschulen vorbei. Selbst die Bundesbildungsministerin hält die Hauptschule für nicht reformfähig und will sie abschaffen. Warum halten Sie an der Hauptschule fest?

Wenn wir schlicht eine Schulform abschaffen, verschwindet damit ja nicht die schwierige Schülerklientel.

In manchen östlichen Bundesländern und im Saarland ist die Zweigliedrigkeit längst Realität. Brandenburg will sie jetzt einführen.

Gemach, gemach. In Brandenburg ist die Demografie der Ratgeber. Dort gibt es Gymnasien, einige Gesamtschulen und Sekundarschulen. Die fassen Haupt- und Realschulen zusammen. Dagegen spricht gar nichts.

Also doch ein Modell für Berlin?

Das Schulgesetz ermöglicht es schon jetzt, Haupt- und Realschulen zusammenzufassen. Wir haben in Berlin eine große Vielfalt. Deshalb bin ich auch nicht dafür, in dieser Legislaturperiode zu sagen, wir machen Gymnasien, Gesamt- und Sekundarschulen. Aber ich schließe das nicht aus. Jetzt geht es vor allem um die innere Schulreform.

Besonders wenig Chancen haben hierzulande Migrantenkinder. Die Hälfte der türkischen Jugendlichen gehört laut Pisa zur Risikogruppe, der das notwendige Wissenswerkzeug für die eigene Zukunft fehlt. Was tun Sie für diese Jugendlichen?

Seit Beginn meiner Amtszeit habe ich Wert darauf gelegt, dass wir der Wirklichkeit ins Auge sehen und dass die Kinder vor allem Deutsch lernen müssen. Inzwischen stimmen alle im Parlament vertretenen Parteien dem zu. Ich habe einen Lernplan für DaZ …

Deutsch als Zweitsprache

… aus Bayern importiert. Wir haben begonnen, DaZ-Lehrer auszubilden. Wir bemühen uns, das Deutschlernen vor und am Anfang der Schule zu verbessern. Wichtig sind dabei die Mütterkurse. Wenn die Mütter Deutsch lernen, begreifen sie, wie wichtig Bildung ist.

Die Finanzierung der Mütterkurse ist immer wieder unsicher, die Ausstattung ist schlecht, das Angebot zu gering.

Wir haben die Finanzierung verstärkt. Gegenwärtig sind 6.000 Mütter in solchen Kursen, aber wir müssen die Mehrzahl der Mütter erreichen.

Alle loben die Mütterkurse, trotzdem gibt es nicht genug Geld. Fehlt es an Unterstützung im Senat?

Das ist in Zeiten der Haushaltskonsolidierung schwierig. Nicht alle begreifen, dass das wirkliche Zukunftsinvestitionen sind.

Das gilt wohl auch für die Sprachförderung in den Kindertagesstätten. Sie testen jetzt die Deutschkenntnisse alle Kinder ein Dreivierteljahr vor der Einschulung. Dann wissen Sie: Es besteht riesiger Förderbedarf – und nichts passiert.

Falsch. Der Test Deutsch Plus soll unterstützen, dass sich Kitas als Bildungseinrichtungen begreifen. Wenn die Erzieherinnen die Ergebnisse haben, werden sie nicht weitermachen können wie bisher. Sie werden ihre Arbeit verändern.

Herr Böger, Sie schicken die Kinder zurück in die Einrichtungen, die bei der Sprachförderung versagt haben.

Weder Schulen noch Kitas werden bei schlechten Testergebnissen geschlossen – sie müssen sich verbessern. Es ändert sich viel, aber das dauert eben. Im Januar bekommen die Kitas neue Materialien, dann gibt es für jedes Kind ein Sprachlerntagebuch. Und auch im Bildungsprogramm für die Kindertagesstätten ist Sprache zentral. Das sind alles Bausteine eines Konzepts. Wir müssen die Erzieherinnen weiterqualifizieren, aber wir haben ja auch die Ausbildung verändert …

die noch immer schlechter ist als in fast allen anderen westeuropäischen Staaten.

Aber auch hier sind wir an der Spitze des Reformzugs. Die Kinder, die in keiner Einrichtung sind, bekommen nach dem Sprachtest einen verpflichtenden Sprachkurs zwei Stunden am Tag. Ab dem nächsten Schuljahr beginnt die flexible Schulanfangsphase, wo sie ein Jahr, aber auch drei Jahre Zeit haben. Zwei Jahre ist der Regelfall. Ich will diese Zeit nutzen, um, wie es im Soziologenjargon der 70er-Jahre heißt, Sozialisations- und auch Sprachdefizite auszugleichen.

Die Förderklassen für die Kinder nichtdeutscher Muttersprache fallen dann weg.

Die Ressourcen bleiben ungekürzt. Wenn die betroffenen Schulen meinen, dass sie für acht Kinder einen Förderkurs brauchen, dann sollen die den einrichten.

Und wie sollen sie das personell machen?

Sie haben ja weiterhin die Ressourcen. Mir haben einige Schulleiterinnen kürzlich noch bestätigt, dass es nicht um mehr Lehrerstellen geht. Was sie brauchen, sei Flexibilität und zusätzlich unterstützend anderes Personal.

Werden sie es bekommen?

Schulen mit hohem Migrationsanteil sollen zusätzliche Budgets bekommen, um in Kooperation mit dem Quartiersmanagement und Stadtteilgruppen spezifische Unterstützungssysteme aufzubauen. Sie haben die Budgets, die vor Ort verwaltet werden. Schulleiter können dann mit einer Referendarin türkischer Herkunft einen Vertrag abschließen oder mit einem Sozialarbeiter oder einem Handwerksmeister.

Wann wird es das geben?

Entweder es geht durch Umschichtung schon zum neuen Schuljahr oder mit dem Haushalt 2006/2007.

Herr Böger, Sie wollen einen neuen Anlauf unternehmen, um Werteunterricht einzuführen. Als Wahlpflichtfach mit der Alternative Religion. Bislang konnten Sie sich weder mit der PDS noch mit Ihrer eigenen Partei einigen. Warum soll das jetzt anders sein?

Ich will einen Diskussionsprozess. Ich fordere alle auf, dass sie sich mit der Realität in bestimmten Quartieren auseinander setzen. Ich möchte nicht, dass wir Unterricht von Organisationen bezahlen, deren Inhalte nicht mit unseren Bildungszielen und Werten übereinstimmen – zum Beispiel was die Gleichberechtigung der Frau, die Menschenwürde oder die Zivilgesellschaft angeht …

Sie meinen die umstrittene Islamische Föderation. Das sagt aber noch nichts über eine Meinungsänderung in der rot-roten Koalition.

Das ist doch kein monolithischer Block. Ich bin eine Anlaufstelle für Medien aus allen Ländern, die mich zu Recht fragen, warum wir diese Zustände nicht ändern. Ich habe noch mal gesagt, was ich meine, und ich werde das auch in eine Gesetzesform gießen.

Aber Aussicht auf Realisierung hat dieses Gesetz nicht.

Ich glaube immer an die Möglichkeit der Veränderung.

Wenn Ihnen die Veränderung so wichtig ist, warum stimmen Sie dann nicht dem Werteunterricht ohne Religion als Alternative zu? Dafür würden Sie im Parlament eine Mehrheit bekommen. Die PDS ist dafür, die Grünen – und auch große Teile der SPD.

Das ist rechtlich möglich, weil wir hier ja – wie in Bremen – eine Sonderregelung haben. Aber damit würde man alle Religionsgemeinschaften aus den Schulen abziehen, und das ist weder klug noch sachlich gerechtfertigt. Denn diese machen dort seit Jahrzehnten gute Angebote. Außerdem hätten wir dann vielleicht zwar eine knappe Mehrheit, aber eine gesellschaftliche Diskussion.

Sie glauben, mit einer solchen Neuregelung könnten Sie die Islamische Föderation aus der Schule bekommen. Warum sind Sie da so sicher? Im Jahr 2000 war sich die Bildungsverwaltung auch sicher – und unterlag vor Gericht gegen die Islamische Föderation.

Gesetzlich wäre ja die Situation eine andere. Das neue Schulgesetz stellt bereits andere Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft, eine Neuregelung im Sinne eines verbindlichen Unterrichtsfaches würde das noch viel präziser tun. In diesem Sinne ist die Islamische Föderation in ihrer jetzigen Verfassung nach meiner Auffassung nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt.

Wenn aber alles beim Alten bleibt, warum schaffen Sie nicht endlich – neben den Aleviten – eine Alternative zur Islamischen Föderation? Zum Beispiel durch Islamkunde?

Es muss ja nicht alles beim Alten bleiben. Wir denken auch an andere mögliche Anbieter für den islamischen Religionsunterricht. Mit Ditib …

der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, die vom türkischen Staat gegründet wurde und der größte muslimische Dachverband hierzulande ist …

… zum Beispiel werden wir Gespräche führen.