JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Verloren wie Tränen im Regen

Mein Gehirn, mein Ex-Notizbuch und meine Bemühungen um ein modernes Vergesslichkeitsmanagement

Ich weiß gar nicht mehr, wann das losging mit meinem schlechten Gedächtnis. Ja, es ist noch etwas früh im Text, doch möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle kurz innezuhalten und die, wie ich finde, recht hübsche, quersinnige Raffiniertheit dieses Einstiegssatzes zu würdigen.

Gut, ich könnte auch sagen: „Ich erinnere mich noch gut: Früher, da war mein Gedächtnis noch nicht so total im Eimer wie heute.“ Das wäre dann aber paradox, und wenn das jemanden mehr bockt als quersinnig-raffiniert, dann soll er oder sie halt erst mit dem Satz da anfangen zu lesen (mitgekriegt? Schon wieder ein Trick, ein direkter mindfuck, fast).

Aber erstens läuft das nicht so schön und zweitens wär’s gelogen. Ich glaube mich nämlich bestenfalls dunkel zu erinnern, dass es mal eine Zeit gegeben haben KÖNNTE, da mein Gedächtnis nicht ganz so schlecht war wie heute. Aber genau weiß ich das eben nicht, ich hab’s nirgends notiert. Vielleicht, weil ich dachte, ich könnte mir das ja merken, was weiß denn – wie gesagt – ich?

Lost like tears in the rain ist jedenfalls heute alles, was ich mir nicht umgehend in mein Moleskine-Notizbuch (gibt’s auch bei Harryet im taz-Shop!) schreibe. Wobei ich mir eh auch immer ein wenig wie ein Hochstapler vorkomme, wenn bei den Dingern auf der Bauchbinde draufsteht, dass in genau solche Büchlein dereinst Hemingway und Chatwin ihre Weltbewegungen vermerkt haben – und man selbst notiert dann Dinge wie „Lustiger Ortsname: Franzensfeste“ und „Milch, Wurst, Gurke, Garn“. Und „Franzensfeste“ ist im nüchternen Nachhinein dann noch nicht einmal so besonders lustig. Trotzdem mag ich die Moleskine-Büchlein gern, wenn sie auch anderthalb gravierende Nachteile haben. a) Die Luder sind sauteuer; (auch bei Harryet im taz-Shop) b) Man kann sie leicht verlieren. Und I did.

Und natürlich ausgerechnet jetzt, wo ich endlich mal was Gescheites hineinnotiert hatte, nämlich eine Idee für einen, oh ja, Roman. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, worum’s da ging, denn, ganz richtig: Wenn ich das noch freihändig wüsste, hätte ich mir den Käse ja nicht aufschreiben müssen. So weit ich mich entsinne, war es irgendwas größer Angelegtes, Fortsetzungsfähiges, spätere Hollywood-Verfilmung nicht ausgeschlossen, so die Richtung. Ich sag mal: Big bucks.

Der findige Dieb oder diebische Finder war wohl leider nicht bekloppt, hat flugs das Potenzial der Story erkannt und das schnelle Geld, das ich im Büchlein als Finderlohn ausgelobt hatte (mutmaßlich höhnisch lachend) in den Wind geschlagen. Und schustert jetzt, während wir hier plaudern, meinen Bestseller zusammen. Die Kanaille. Hier: Wieder ein Paradoxon. Wenn keine Millionenidee in dem verlorenen Büchl drin wäre, hätte ich es längst zurück. Andererseits pfeift ohne Millionen-Idee halt auch der Hund drauf.

Was ich EIGENTLICH erörtern wollte, ist: Komischerweise – und das wird mir an Weihnachten jetzt wieder vielfach aufs Peinlichste unter die Nase gerieben werden – gibt es keinerlei, sagen wir, positive Synergieeffekte zwischen wie im Fluge vergehender Zeit und verrottendem Gedächtnis. Kombiniert man diese beiden Plagen, kürzen sich keine ihrer Symptome weg.

Wenn es mir auch so vorkommt, als wäre das erst vorgestern gewesen, dass ich zum letzten Mal alle meine Freunde, Bekannten und „Bekannten“ zum großen Feiertagsheimkehrer-Weihnachts-Fest in der Landdisco getroffen habe, werde ich doch auch diesmal – zumindest bei letzteren beiden – wieder zuverlässig ratzeputz alles vergessen haben: Wer in welchem In- oder Ausland wie viele Semester was studiert hat, wie die Prüfungen gelaufen sind, wer wo seit wann und zu welchen inwiefern haarsträubenden Konditionen was arbeitet, wer wann warum wohin von woher umgezogen ist und dort mit wem wie viele Kinder hat. Und mitunter, so Leid’s mir tut: wer wie heißt.

Ein Elend. Moment! Der Roman! Ich erinnere mich jetzt! Es war irgendwas mit einem Vogel. Einem großen Vogel … als Symbol für … Ach, vergessen Sie’s.

Fragen zum Gedächtnis? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER