Der Tod erscheint früh, nicht düster

Ein Haus in dem Kinder lachen und spielen – trauern und sterben. Das Kinderhospiz Balthasar im sauerländischen Olpe war das erste Sterbehaus für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Statt immer mehr zu können, immer mehr zu lernen, verlieren die todkranken Kinder ihre Fähigkeiten wieder

Kinder sind direkter, sie sind Gefühlsspezialisten. Sie weinen nach außen, nicht nach innen. Wenn sie wütend sind, dann schreien und toben sie

VON LUTZ DEBUS

Das große runde ausgepolsterte Bassin ist gefüllt mit bunten Plastikbällchen. Auf dem farbigen Meer schwimmt eine Frau. Sie ist Pädagogin. Und sie wird eingegraben von einem Mädchen. Das Mädchen ist zehn Jahre alt und wird noch einige Monate leben.

“Du bist jetzt weg! Ganz weg! Du bist tot!“ – Die Frau ist nun tatsächlich unter den vielen Bällchen verschwunden. Ewige Sekunden vergehen. “Du kannst wieder rauskommen!“ Die Pädagogin richtet sich auf, krabbelt mühsam an den Rand des Beckens. “Jetzt bin ich dran. Du gräbst mich ein!“ Die Frau legt vorsichtig Plastikbälle auf das liegende Kind, ihr geht es zu langsam, mit ihren Händen schaufelt sie Bälle auf sich. Lange hält es das Mädchen nicht da unten aus. Sie habe Angst bekommen, es sei so einsam gewesen. Der Frau ging es nicht anders. Lange schauen sich die beiden an, die Hände des Mädchens ruhen in denen der Frau. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Mädchens.

Jedes Jahr erkranken in Deutschland über 500 Kinder an unheilbaren Krankheiten, an Krebs, an Muskelschwund, an Stoffwechselstörungen. Manche Krankheiten sind so selten und unbekannt, dass kaum jemand sie bei Namen kennt. Und es gibt Kinder, die an den Spätfolgen eines Unfalls sterben.

Wenn Eltern eine dieser Diagnosen mitgeteilt bekommen, bricht für sie eine Welt zusammen. Bis zum Tod des Kindes dauert es Monate, manchmal Jahre. Oft ist ein erheblicher Pflegeaufwand nötig, den zu einem großen Teil die Eltern übernehmen müssen; die Geschwisterkinder treten in den Hintergrund. Manche Familien kommen trotz Kranken- und Pflegeversicherung in finanzielle Not. Am schlimmsten aber ist das seelische Leid.

Vor fünf Jahren wurde das Kinderhospiz Balthasar in Olpe eröffnet. Es war die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Die Gründer, betroffene Eltern, die sich in dem Deutschen Kinderhospizverein 1990 zusammenschlossen, orientierten sich an der schon etablierten Arbeit in Großbritannien. Dort gibt es Kinderhospize seit den Sechziger Jahren. Lange suchte der Verein nach interessierten Trägern. Die bekannten und großen Wohlfahrtsverbände winkten ab – zu unsicher war ihnen die Finanzierung eines solchen Projektes. Tatsächlich trägt sich die Arbeit zu einem großen Teil aus Spenden. Als der Verein endlich die gemeinnützige Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe fand, dauerte es bis zur Eröffnung dann nur noch ein halbes Jahr.

Acht Kinder können mit ihren Familien in den hellen Räumen ein zweites Zuhause finden. Rund um die Uhr stehen Kinderkrankenschwestern, Pädagogen und Therapeuten zur Verfügung. Sie wollen den kranken Kindern ihre noch verbleibende Lebenszeit so erfüllt wie möglich gestalten. Die Eltern erfahren Beistand und die Chance, sich mit anderen auszutauschen. Auch für die Geschwisterkinder gibt es spezielle Angebote.

Aber wie kann das gehen? Wie kann einem sterbenden Kind ein erfülltes Leben gestaltet werden? Wie können Eltern und Geschwister getröstet werden? Gibt es da überhaupt Trost? Gibt es gar eine Methode?

„Wir haben aufgehört, Pläne zu machen“, sagt die pädagogische Leiterin des Kinderhospizes Balthasar, Birgit Halbe. Es gebe keine Methodik. Natürlich bekommen die Kinder die notwendige medizinische Pflege. Ansonsten orientieren sich die Mitarbeiter an den Wünschen ihrer jungen Gäste. Gefrühstückt wird, wenn der Tag beginnt, also recht spät. Auch sonst ist nichts wie im sterilen Krankenhaus: Ein freundlicher Kindergarten. Die Kinder, die sprechen können, sagen, was sie wollen. Manche rasen computersimuliert über den Nürburgring, andere spielen im Sandkasten oder in der Puppenecke.

Allein zu sein, halten wenige lange aus. Immer wieder ist „Sterben“ und „Tod“ in ihren Spielen. Egal, ob beim Kasperletheater oder beim Rollenspiel. Die Mitarbeiter reagieren auf die Ideen der Kinder. Und diese setzen sich sehr direkt mit ihrer Situation auseinander, direkter, als dies Erwachsenen gelingt: Kinder sind Gefühlsspezialisten. Sie weinen nach außen, nicht nach innen. Wenn sie wütend sind, dann schreien und toben sie.

Zu Trauer und Wut gibt es genug Anlässe. Statt immer mehr zu können, immer mehr zu lernen, verlieren diese Kinder ihre Fähigkeiten wieder. Sie können irgendwann nicht mehr laufen, gehen, greifen, sprechen. Und diese Verluste schmerzen. Gegen die körperlichen Schmerzen gibt es Mittel, gegen die seelischen oft nur die Gewißheit, getröstet zu werden.

Haben die Kinder Angst vor dem Sterben? Angst entsteht oft dann, wenn Kinder etwas spüren, aber etwas anderes hören. Die Spannung zwischen dem, was die Erwachsenen sagen und dem, was die Kinder ahnen, kann Angst machen.

Viele Kinder fürchten sich gar nicht so sehr vor dem Tod. Der Tod erscheint ihnen nicht so düster. Malend können sie sich ausdrücken. Auf vielen Bildern strahlt eine große Sonne. Engel mit bodenlangen Kleidern und Riesenflügeln lächeln. Verlassene Rollstühle werden gemalt. Das Leid hat mit dem Tod ein Ende.

Ein Kind, das mit einer Magensonde ernährt wurde, wurde nach seinem früheren Lieblingsessen gefragt. Es malte sein Bild vom Paradies: Ein Wald voller Bäume. Statt Blätter wuchsen diesen Bäumen Spaghettis aus den Zweigen, mit Tomatensoße, direkt in den Mund des Kindes. Kindern gelingt etwas, das Erwachsenen, aufgeklärten Menschen mit biologischem, chemischem und physikalischem Fachwissen versagt bleibt. Kinder haben eine Vorstellung vom Tod. Ob diese weniger zutreffend ist, als eine naturwissenschaftliche, ist nicht erwiesen.

Viele Kinder können auf Grund der Schwere ihrer Krankheit nicht mehr sprechen. Eltern berichten dann von den Vorlieben ihrer Kinder. Letztlich entscheidet deren Mimik und Gestik, ob die Mitarbeiter mit ihrer Idee richtig liegen. Es gibt einen Snoozelraum, ein Schwimmbad, ein Bällchenbad, eine Klangliege. Doch immer wieder ist körperliche Nähe das beste Heilmittel für die Unheilbaren und die Gesunden.

Der Ort des Sterbens ist das Zimmer des Kindes, das Bett des Kindes. Es gibt keine Regeln. Wer sitzt da am Bett? Was macht dieser Mensch? Was geschieht? Nach dem Tod können die Angehörigen bis zur Beerdigung mit dem Kind in dem Raum bleiben. Und auch nach der Beerdigung finden sich Spuren der verstorbenen Kinder im Haus. Es bleibt ein Hand- oder Fußabdruck des Kindes auf einer Wand. Es bleibt ein Windrad im Garten, das den Namen des Kindes trägt. Zum Todestag werden die Familien eingeladen.

Und etliche kommen, beladen mit Fotoalben, mit Filmen, mit Erinnerungen. Nur wenige Menschen haben Verständnis dafür, immer wieder mit diesem Thema konfrontiert zu werden. Bekannte winken ab. „Jetzt ist aber auch mal gut!“ Zu schwer ist es wohl, Trauer zu teilen. Im Kinderhospiz finden die Familien offene Ohren.

Irgendwann geht das Leben weiter. Die Eltern werden wieder berufstätig, vielleicht bekommen sie ein Baby. Viele engagieren sich in Hospizgruppen. In Berlin und Hamburg gibt es seit kurzem Kinderhospize, in Bremen, Düsseldorf, Wiesbaden und im Allgäu sind weitere geplant. Prominente wie Reinhard Mey, Birgit Schrowange, Norbert Blüm oder Heidi Kabel unterstützen die Kinderhospize.

Das Kinderhospitz Balthasar steht auf einen hohen Berg im Sauerland, es ist eine besondere Grenzstation für besondere Kinder.