Ein Mensch ohne Grenzen: Jürgen Möllemann

taz-Jahresrückblick: Ohne ihren Populisten und Einpeitscher hört der nordrhein-westfälischen FDP niemand mehr zu

DÜSSELDORF taz ■ Einen wie Jürgen W. Möllemann gibt es nicht mehr bei den Liberalen in Nordrhein-Westfalen. Einen, der immer „Ich“ schreit, der keine Grenzen kennt, der denkt, nur er allein sage die Wahrheit, und „wo ich bin, ist oben“. Einen, der antijüdische Hassgefühle schürt, seine Freundschaften zerstört und zuletzt sein Leben. Einen, der selbst nach seinem Tod die wildesten Gerüchte heraufbeschwört: Noch immer ist ungeklärt, ob sein Fallschirmabsturz ein Unfall oder Selbstmord war, ob er die Reißleine absichtlich nicht zog. Am 5. Juni sprang Möllemann mit seinem Fallschirm in Marl in den Tod.

Seine liberalen Jünger und Jüngerinnen blieben ihm treu. Vor allem FDPler aus seinem Münsteraner Heimatverein und dem Ruhrgebiet verstrickten sich nach seinem Tod in Verschwörungstheorien um sein jähes Ende, glaubten an Mord, dunkle Komplotte der Berliner Führungsspitze, nur nicht an Möllemanns eigene Verantwortung. „Das war niemals Selbstmord“, sagte Bottrops FDP-Chefin Ruth Becker, ein Kollege aus Duisburg war sich sicher, dass Möllemann bei einem Suizid Abschiedsbriefe verfasst hätte. Und Münsters damaliger Vize-Vorsitzender und Freund der Familie Möllemann, Hans Varnhagen, sagte: „Unser Mentor wurde fertig gemacht.“ Die moralische Verantwortung trage die Parteispitze.

Das Fischen am rechten Rand begann Möllemann schon viel früher, im Jahr 2002. Damals warf Möllemann dem mittlerweile über Kokainmissbrauch und gehandelte Huren ebenfalls gestolperten Michel Friedmann vor, „mit seiner arroganten und gehässigen Art“ den Antisemitismus selbst zu produzieren.

Kurz vor der Bundestagswahl schrieb Möllemann einen antisemitischen Flyer über den bösen Scharon, den bösen Friedmann, den guten Möllemann. Die FDP verliert, kurz nach dem FDP-Wahldebakel erklärt er seinen Rücktritt vom Amt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden, wenige Monate später leitet die NRW-FDP ein sehr verspätetes Parteiausschlussverfahren ein. Als er erkennt, wie aussichtslos seine Karriere bei den Liberalen ist, kommt er dem Rausschmiss durch seinen Austritt zuvor. Er ist jetzt freier Demokrat, wie er betont, mit kleinem „f“. Vor dem Erscheinen seines Buches „Klartext“ zitterten die Liberalen noch einmal, aber die schriftliche Selbstbeweihräucherung war politisch uninteressant.

Dann ging alles ganz schnell: Die NRW-FDP bekommt ein blasses Führungsduo. Andreas Pinkwart, einen nach eigenen Aussagen wirtschaftlich konservativen und sozialpolitisch linksstehenden Liberalen, und Ingo Wolf, dem nichts liberalistisch genug sein kann. Ein halbes Jahr später sind die beiden den WählerInnen egal und den Parteimitgliedern zu lahm. Sie wünschen sich ein bisschen von ihrem alten Möllemann zurück: Die Anfang November 2003 gegründete „Initiative Freie Demokraten in der FDP“ will den „faszinierenden Anspruch Möllemanns“ wiederbeleben und eine Partei fürs ganze Volk sein. Die FDP solle heraus aus den „Champagneretagen“. Hinter dem siebenseitigen Papier stehen zwei Landespolitiker, die Möllemann über viele Jahre eng verbunden waren – sein früherer Generalsekretär Andreas Reichel und sein früherer Vizefraktionschef Stefan Grüll. Das schnell zusammengezimmerte Positionspapier von Wolf, „Über Zustand und Zukunft der FDP“ findet kaum Beachtung.

Heute kostet selbst der tote Möllemann die Liberalen viel Geld. Sie rechnen mit Strafzahlungen von rund 750.000 Euro für die schwarzen Kassen ihres ehemaligen Vorsitzenden. Darin enthalten ist ein mögliches Strafgeld an Bundestagspräsident Wolfgang Thierse für die jüngst entdeckten Verstöße Möllemanns in den Jahren 1996 bis 1998. Ob Möllemann den Beginn der größten Razzia der Bundesgeschichte gegen einen Politiker noch mitbekam, ist ungewiss. Kurz nachdem im Bundestag Möllemanns Immunität aufgehoben wurde, durchsuchten mehr als 100 Beamte und Beamtinnen sein Bundestagsbüro, sein Büro im Düsseldorfer Landtag, sein Ferienhaus auf Gran Canaria, Bankhäuser in Luxemburg und Liechtenstein. Zuletzt wurde in vier verschiedenen Richtungen gegen den Schnauzträger ermittelt: Die Staatsanwaltschaft Münster untersucht Vorwürfe der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe, die in Düsseldorf Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Betrug.

Einen wie Möllemann gibt es nicht mehr in der NRW-FDP, aber nur wenige seiner JüngerInnen in seinem Münsteraner Wahlkreis und im Ruhrgebiet sehnen sich nach ihm zurück. Nur der Fußballverein Schalke plant, dem ehemaligen Aufsichtsratsmitglied einen Gedenkstein an der Arena „Auf Schalke“ zu errichten. ANNIKA JOERES