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: Reiches Innenleben: „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“

Kann ein Huhn ein „bürgerliches Übel“ sein? In dem abgelegenen chinesischen Dorf durchaus, in das die beiden 18-jährigen Studenten Luo und Ma in den 70er Jahren zur Umerziehung geschickt werden. Ihr Kochbuch aus der Stadt wird sofort vom Parteifunktionär als „bourgeoises Machwerk“ entlarvt und verbrannt, und das gleiche droht dem Instrument des Violinisten Ma, das die Dorfbewohner argwöhnisch wie eine Bombe unter sich herumreichen. Der Chefideologe entscheidet, dass es ein Spielzeug ist und auch ins Feuer gehört, aber dann rettet Ma die Situation, indem er eine Mozartsonate spielt und diese schlitzohrig „Mozart denkt an den Führer Mao“ nennt.

Mit solch einem zärtlichen Spott hat noch kein chinesischer Intellektueller von der Kulturrevolution erzählt. Der in Frankreich lebende Schriftsteller Dai Sijie, der übrigens gerade für seinen neuen Roman „Le Complex de Di“ den begehrten „Femina“-Literaturpreis verliehen bekam, schilderte in seinem halb autobiographischen, halb fiktionalen Debüt „Balzac et la petite tailleuse chinoise“ seine eigenen Jugenderfahrungen. Er wurde zwischen 1971 und 1974 nach Sichuan in die Umerziehung geschickt, konnte seine Ausbildung nach Maos Tod fortsetzten und reiste dann nach Frankreich aus. Aber anders als die meisten Chinesen erzählt er nicht von Gräueltaten, sondern schildert das Leben auf dem Dorfe mit einer ironischen Distanz, ja fast als Idylle. Er selbst hat sein Buch stilsicher und mit einem guten Sinn für den erzählerischen Fluss verfilmt.

Ma und Luo sollen von der Dorfgemeinschaft auf den ideologisch richtigen Weg gebracht werden. Ma stammt aus einer Musikerfamilie, ist also dekadent, und Luo trägt die Schuld, dass sein Vater, ein Zahnarzt, Füllungen für Tschiang Kaischeks Backenzähne gemacht hat. Wie alle Dorfbewohner müssen die beiden extrem hart arbeiten. Die einzige kulturelle Unterhaltung, die den Dorfbewohnern gestattet ist, sind die Vorführungen von Propagandafilmen aus Nordkorea und Albanien, und Ma und Luo erzählen diese Filme so schön nach, dass sie bald zu den Kinovorstellungen in andere Orte geschickt werden, um dann das Gesehene im eigenen Dorf mündlich wiederzugeben.

Ein weiterer Verbannter taucht im Dorf auf, und dieser wird schon deshalb bürgerlicher Umtriebe verdächtigt, weil er eine Brille trägt. Tatsächlich bringt er einen Koffer mit verbotener westlicher Literatur ins Dorf, und den stehlen ihm Luo und Ma.

Denn inzwischen haben sie die Tochter des Dorfschneiders getroffen. Die ist wunderschön und intelligent, kann weder lesen noch schreiben, hört aber gerne den beiden bei ihren Erzählungen zu. Und so betören die Verliebten die „kleine chinesische Schneiderin“ bei heimlichen Vorlesestunden mit den Geschichten von Balzac, Stendhal, Gogol, Flaubert, Dostojewskij und Dumas. Nun verändert sich der Film von einer sanften Satire in eine romantische Komödie, die „Umerziehung“ wird zu einer „éducation sentimentale“.

All dies passiert in einer atemberaubenden Landschaft mit waldbewachsenen Bergen, tiefen Abhängen und rauschenden Wasserfällen, und Dai Sijie hat diese Schönheit sehr wirkungsvoll für seinen Film eingefangen. Er wird nie sentimental, hat aber auch keine Angst vor großen Gefühlen. Er erzählt von der Macht der Literatur. Davon, wie die Bücher in den drei jungen Menschen die Sehnsucht nach Freiheit und einer besseren Welt wecken, davon, wie sie sich inmitten einer kulturlosen, armen und harten Welt ein reiches Innenleben der Fantasie einrichten. Wilfried Hippen

tägl. im Atlantis