Schmeißer von Garmisch

Die alte Anlage in Garmisch-Partenkirchen, wo morgen das zweite Springen der Vierschanzentournee stattfindet, ist das Sorgenkind im Kreis der ansonsten modernisierten Skisprungmonster

AUS GARMISCH-PARTENKIRCHENKATHRIN ZEILMANN

Sie wirken in jedem Panorama erst einmal eigentümlich. Dann irgendwie erhaben. Seltsam aber auf jeden Fall. Doch zum Glück wissen Mittel- und Nordeuropäer ja, was es mit jenen Gebilden auf sich hat, die sich wie ein Fingerzeig gen Himmel erheben oder zwischen Gebirgswäldern wie Schneisen an steilen Abhängen freigelegt sind. Es sind Skisprungschanzen.

Bei der Vierschanzentournee können die Springer sich noch so sehr Mühe geben und das Rampenlicht suchen, kann der Privatsender RTL die „Helden der Lüfte“ noch so frei schwebend wider der Schwerkraft zeigen – die heimlichen Stars der Wettbewerbe sind die Schanzen. Denn sie müssen erst einmal bezwungen werden, ehe sich ein Athlet Sieger nennen darf. Die Springer haben alle einmal klein angefangen, sind auf Kinderschanzen, die kaum größer als ein Schneehaufen waren, gesprungen und nach wenigen Metern wieder gelandet. Heute segeln sie weit über die 100-Meter-Marke hinweg. Vielleicht wird es bald sogar Sprünge auf 250 Meter geben, die Pläne für derlei große Anlagen liegen in den Schubladen. Auch wenn Kritiker wie etwa der ehemalige deutsche Bundestrainer Reinhard Heß warnen: „Die Gesetze der Schwerkraft kann man nun mal nicht außer Acht lassen. Die Gesundheit der Springer sollte vorgehen.“

Es sieht beileibe nicht gesund aus, wenn schmächtige junge Männer auf langen Skiern tief in der Hocke in der Anlaufspur hinabgleiten und auf über 90 Stundenkilometer beschleunigen, sich im richtigen Moment erheben müssen, in der Luft die Skier zu einem V spreizen, die Arme anlegen und sich schließlich ihr Oberkörper fast zwischen den Skiern befindet. Doch Gefahr ist Faszination. Es raubt einem dem Atem und man zollt den Mutigen nur noch Hochachtung.

Skispringen ist eine dynamische Sportart, in der es große Neuerungen genauso gibt wie die Veränderung kleiner Nuancen. Deshalb werden Schanzen oft umgebaut und erweitert. Modern soll es sein, weit soll es gehen, viele Zuschauer sollen dabei sein können. Es wird fleißig gebaut. Der Umbau der Schattenbergschanze in Oberstdorf, die zur nordischen Ski-WM 2005 Ort der Medaillenjagd sein wird, kostete 16,6 Millionen Euro. „Die Planung war Millimeterarbeit“, sagt Thomas Weiß vom WM-Organisationskomitee. Der Winkel der Neigung des Schanzentischs muss genau stimmen, der Aufsprunghügel darf nicht zu steil, aber auch nicht zu flach sein. Und welcher planende Architekt kann schon voraussagen, ob die Flugkurve schön, der Absprungpunkt optimal getroffen ist?

Die neue Schanze in Oberstdorf hat beim Sieg des Norwegers Sigurd Pettersen am Montag unter den Augen und Füßen der Springer einigermaßen bestanden – auch die modernen Anlagen in Innsbruck und Bischofshofen werden kaum Anlass zu Kritik geben. Anders sieht das in Garmisch-Partenkirchen aus, wo am Neujahrstag das zweite Springen ausgetragen wird. „Ich sag immer Schmeißer dazu“, erklärt Michael Uhrmann. Weil: „Man kommt sehr weit oben raus.“ Martin Schmitt geht noch weiter, er meint: „Unten im Radius kann das richtig gefährlich werden.“ Vielleicht, so hofft Cheftrainer Wolfgang Steiert, könnte auch die Garmischer Schanze umgebaut werden, „dann hätten wir bei der Tournee vier Top-Anlagen“.

Könnten Schanzen sprechen, sie hätten viel zu erzählen: von Siegen und Niederlagen, von Helden und unsanft Gelandeten. Von spannenden sportlichen Wettkämpfen, von den heutigen Shows und Events rund um den Anlaufturm. Vielleicht würden sie sich aber auch beschweren, denn das Verhältnis der Springer zu den Schanzen ist ambivalent. „Wenn wir zu einer neuen Schanze kommen, dann schaue ich mich da erst einmal um, ich gehe zum Schanzentisch, versuche mich ein wenig mit der Anlage anzufreunden“, sagt der Schweizer Andreas Küttel. Schmitt sieht das ein wenig nüchterner: „Man fährt hin und springt.“ Dementsprechend scheut der vierfache Weltmeister die Konfrontation nicht – allerdings vergeblich, weil er dummerweise ein Nationaldenkmal der Norweger im Visier hatte. 1999 gab er ein Interview und erklärte, man könne die veraltete Osloer Holmenkollenschanze nicht mehr modernisieren und solle sie deshalb besser gleich „abreißen“. Das kam ungefähr der Forderung gleich, das Brandenburger Tor wegen Behinderung des Straßenverkehrs dem Erdboden gleichzumachen. Schmitt hat sich entschuldigt. Und Platz zwei damals war dann auch nicht so schlecht auf einem veralteten Bakken.

Heftigere Äußerungen kamen von Sven Hannawald, als er bei der Ski-WM in Val di Fiemme im Februar keine Medaille gewinnen konnte. „Pissbock“, beschimpfte er die Schanze in Predazzo – und niemand verstand, warum er die Schuld für seine schlechte Leistung der Schanze gab. Wäre sie auch verantwortlich für den Erfolgsfall gewesen?