silke burmester
: Das vergangene Jahr: ein fader Eintopf für Allesfresser

Zum Jahreswechsel werden sie uns mal wieder in großer Zahl vorgesetzt: die Jahresrückblicke, die „Highlights“, die „bewegendsten Bilder“. Dass so etwas interessant sein könnte, glauben wohl nur Chefredakteure.

Der Leser ist ein stilles, alles fressendes Tier. Und da der gemeine Chefredakteur lieber aufwärmt, als selbst kreativ zu sein, ist der Dezember die beste Zeit des Jahres für ihn. Je nach Produktionszeiten ein wenig früher oder später weist er seine Lakaien an, die Reste des Jahres zusammenzusammeln. Und dann liegen bundesweit die Medienmitarbeiter auf den Böden der Redaktionsküchen, knien vor den Regalen und sammeln zusammen, was im vergangen Jahr unter und hinter den Herd gefallen, was zwischen die Kühlschränke gerutscht ist oder sich dort in der untersten Lade verbirgt. Vergessenes, Übriggebliebenes, Verdorbenes. Nur wenige frische Zutaten muss der Chef beim Großmarkt bestellen, das meiste findet sich irgendwo. Und dann wird gerührt und gestreckt und weitergerührt, bis der Brei fertig ist. Das bringen sie dann als „Jahreschronik“ auf den Tisch oder nennen es „Bilder des Jahres“.

Was der Leser nun frisst, ist für sein Informationsbedürfnis so notwendig, wie Eischnee sättigend ist. Er konsumiert einen Eintopf, der weder nahrhaft ist, noch stimuliert und der sich von Küchenchef zu Küchenchef nur in Nuancen unterscheidet. Die scheinbar nennenswerten Ereignisse des zu Ende gehenden Jahres werden als Acht-Gänge-Menü serviert, das nur zwei Erfahrungen zulässt: das „Ach-ja!-Erlebnis“ und das „Ja-logisch!-Empfinden“. Ersteres erfährt der Leser, wenn er Bilder von Begebenheiten sieht, die er sehr gut erinnert, jedoch bereits vergessen hatte, Zweites stellt sich ein, wenn die Bilder und die Erinnerung so präsent sind, dass er sich fast für dumm verkauft fühlt, sie schon wieder vorgesetzt zu bekommen.

Nun könnte man meinen, es habe einen konstruktiven Effekt, zum Jahresausklang die letzten zwölf Monate Revue passieren zu lassen, um abschließen zu können und sich dem Neuen zu öffnen. Doch stattdessen lässt sich der geneigte Leser oder besser Angucker, denn zu lesen gibt es in der Regel wenig, einmal mehr am Nasenring durch die mediale Scheinwelt führen. Es ist ein weiterer Versuch, das Bild dessen zu bestimmen, was als Betroffenheit auslösend, als wichtig, als der Empfindung wert, wahrgenommen werden soll. Und weil scheinbar nur die anpassungsfähigsten, unkreativsten Buchhalter zu Chefredakteuren gemacht werden, sehen diese Chroniken auch überall gleich aus. Da fühlt sich schon einer weit vorn, wenn er Bilder vom Irakkrieg einkauft, die bislang in Deutschland noch nicht zu sehen waren.

Im Gegensatz zu den Rindern, die keine Wahl haben und ganz unfreiwillig ihre geschredderten Artgenossen verzehren (was, wie wir wissen, zum Wahnsinn führt), hat das Leser-Tier die Möglichkeit einer Fastenkur. Es sollte sie nutzen und erst Mitte Januar wieder zu den Heften greifen. Dann nämlich sind die Februar-Ausgaben auf dem Markt.