Bangen in der Türkei vor dem EU-Gipfel

Am Freitag wollen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union entscheiden, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. Die türkische Öffentlichkeit fürchtet weitere Bedingungen, Ausflüchte und Vertröstungen

ISTANBUL taz ■ Einen Tag vor Beginn des für die Türkei historischen EU-Gipfels in Brüssel herrscht nach wie vor Unsicherheit, mit welchem Ergebnis die türkische Regierung nach Hause kommen wird. Zwar sagte Ministerpräsident Tayyip Erdogan gestern, seine Regierung habe alles Notwendige zur Erfüllung der EU-Kriterien getan. Er werde keine neuen Bedingungen akzeptieren. Doch die Öffentlichkeit bleibt skeptisch.

Fast alle großen Zeitungen malen Szenarien, wie es in Brüssel laufen könnte. So will Cumhuriyet in Erfahrung gebracht haben, dass ein Dreiergipfel zwischen Kanzler Schröder, Frankreichs Präsident Chirac und Erdogan geplant ist. Chirac wolle dabei noch einmal versuchen, seinen türkischen Kollegen für die Möglichkeit einer „privilegierten Partnerschaft“ im Falle eines Scheiterns der Beitrittsverhandlungen zu gewinnen.

Dieser Begriff wird aber in der Türkei gleichgesetzt mit einer Beerdigung ihrer EU-Ambitionen. Auch Schröder wird keinen Wert darauf legen, die Formulierung seiner innenpolitischen Konkurrenz im Gipfeldokument zu finden. Deshalb geht man davon aus, dass ein Kompromiss eher beim Zeitpunkt zur Verhandlungsaufnahme liegen könnte. Während Erdogan betont, der Gipfel vor zwei Jahren habe festgelegt, dass Verhandlungen nach einem entsprechenden Votum der Staats- und Regierungschefs „unverzüglich“ beginnen sollen, will Chirac bis 2006 warten. Der Gipfel könnte die EU-Kommission mit einer nicht befristeten technischen Vorbereitung der Gespräche beauftragen. Diesen so genannten Screening-Prozess könne Erdogan als Verhandlungsbeginn verkaufen, während Chirac weiterhin behaupten könnte, die eigentlichen Verhandlungen würden erst Anfang 2006 beginnen.

Unabhängig von diesen Detailfragen ist die türkische Öffentlichkeit immer noch stark verunsichert, ob es überhaupt zu einem positiven Votum auf dem Gipfel kommt. Bei Umfragen befürchten die meisten, dass den EU-Regierungen noch ein Grund einfallen wird, den Beginn von Verhandlungen zu verschieben.

Dazu, so jedenfalls die türkische Regierung, wird es dann nicht mehr kommen. Falls die EU sich wieder nicht zu einem klaren Votum und einem klaren Datum für den Beginn der Gespräche durchringen kann, werde man sich neu orientieren müssen, heißt es in Ankara. Eine erneute Verschiebung werde nicht mehr akzeptiert.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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