„Wir werden das neue Singapur“

AUS HARRAN PHILIPP GESSLER

Ayse Tekin ist 25 Jahre alt, sieht aus wie Mitte 40 und hat noch nie von der Europäischen Union gehört. Warum auch, könnte man fragen? Seit sie zwölf ist, war sie nicht mehr in der Schule, seit sie zwölf ist, pflückt sie Baumwolle auf den Feldern nahe des Dorfes Harran in Südostanatolien. Die Haut ihres Gesichtes ist gebräunt und hat tiefe Falten. Sie verbringt die meisten Tage gebückt. Seit Generationen sind die Tekins Baumwollpflücker, gibt sie zu verstehen, ihre Sippe arbeitet mit, elf Leute sind es. Dieses Jahr ist die Blüte klein, da tut das Pflücken mehr weh, erklärt sie – und was kann man gegen den schmerzenden Rücken am Ende des Tages tun? „Am nächsten Tag wieder kommen“, sagt sie trocken.

Die EU ist weit hier auf einem gottverlassenem Feld nahe der syrischen Grenze. Die Frauen tragen Kopftuch und weite, bunte Kleidung, eine kleine Ziegenherde weidet zwischen den Baumwollbüschen, die Kinder arbeiten mit – trügen sie keine T-Shirts, könnte dies ein Bild aus dem Osmanischen Reich sein. Und was hat sich schon für Landarbeiterfamilien wie die der Tekins seitdem geändert? Nichts zählt als ihrer Hände Arbeit, ein Sack füllt sich in einer halben Stunde, dies ist nicht ihr Land, und wird es nie sein. Es gehört dem Landbesitzer in der Stadt. Wird sich hier jemals etwas ändern? Harran war bis zum Mongolensturm um 1260 eine große Universität des Orients – heute ist nur noch ein Trümmerfeld und die Ruine der Sternwarte übrig.

Am Freitag wollen die Staats- und Regierungschefs der EU offiziell über den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen, und die Sippe Tekin zeigt, wie weit der Weg ist, den der europäisch-asiatische Staat noch vor sich hat. Jahrzehntelang wurde ihm die Mitgliedschaft im Club der Reichen auf dem Alten Kontinent versprochen, jetzt scheint das ganze Land seine Hoffnung in den Beitritt zu stecken. Selbst der Schafhirte mit dem Palästinensertuch neben der Schnellstraße zwischen Diyarbakir und Sanliurfa mitten in einer Art Steinwüste spricht davon: Welche Hoffnung er habe, dass ihm die Union einen höheren Lebensstandard sichert. Sein Sohn trottet noch mit einem Esel hinter der Herde her. Selbst Kleinkindern ist die Union offenbar ein Zeichen der Moderne: Mitten im südostanatolischen Niemandsland steht neben den Zapfsäulen einer Tankstelle ein Dreirad mit einem Aufkleber. Er zeigt die EU-Fahne, ein Sternenkranz auf blauem Grund.

Sterne auf dem Handy

Diesen Sternenkranz hat sich Sehmus Akbas auf sein Mobilfunktelefon geladen, er zeigt es nicht ohne Stolz. Akbas ist Präsident des Arbeitgeberverbandes von Ost- und Südostanatolien mit Sitz in Diyarbakir, der Hauptstadt Südostanatoliens. Die 1,5-Millionen-Stadt war Jahrzehnte lang nur als Brennpunkt türkisch-kurdischer Kämpfe in den Schlagzeilen. Akbas ist ein rundliches Cleverle, der – wie fast alle Offiziellen – Gäste unter einem Bild Atatürks empfängt.

Diese Region, erklärt Akbas, sei zwar wirtschaftlich etwas zurückgeblieben, aber man könne sie schnell voranbringen. Die Gegend habe etwa beim Marmor die größte Kapazität der Welt, dazu die zentrale Lage für den Handel mit dem Nahen Osten. Als vor ein paar Monaten die Handels- und Industrie-Messe in Bagdad aus Sicherheitsgründen verlegt werden musste, sei sie nach Diyarbakir ausgewichen. Umfragen zufolge seien in dieser Region 95 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt, verkündet Akbas. Die Türkei werde keine Belastung, sondern vielmehr eine Bereicherung für die EU sein, verspricht der Arbeitgeberfunktionär. Seine Region habe beste Chancen. „Wir glauben, wir werden das künftige Singapur!“, prahlt Akbas, und wenn man die staubigen Straßen Diyarbakirs anschaut, versteht man, was Optimismus ist.

Frauen essen abseits

Etwas nüchterner kommt Yilmaz Akinci daher, ein smarter junger Mann, der fließend Englisch spricht – anders als Akbas, für den er als Berater und Pressesprecher arbeitet. Akinci erzählt von dem Mann aus einem Dorf, kaum 25 Kilometer von hier entfernt, der neulich in die örtliche Presse kam, da er von fünf Frauen 56 Kinder hat. Ehrenmorde seien immer noch ein großes Problem in Diyarbakir. Fast die Hälfte aller Frauen in dieser Region klagten Umfragen zufolge über häusliche Gewalt, und auf dem Dorf müssten Frauen noch in anderen Räumen essen als ihre Männer. Ganz abgesehen davon, dass man ihnen natürlich nicht die Hand geben dürfe. Die EU, fügt Akinci hinzu, sei hier für viele wie ein Zauberstab oder eine Wohlfahrtsorganisation, die alles zum Besseren wenden solle. Und was hält ihn hier? „Ich hätte keine Probleme, im Westen zu arbeiten“, meint er selbstbewusst, und man kauft es ihm ab, „aber ich will den Leuten hier in meiner Heimat helfen.“ Er kümmert sich etwa in einem Verein ehrenamtlich um Straßenkinder der Stadt. Etwa 14.000 gebe es von ihnen.

Auch wenn die eigentliche Integration in die EU noch weit ist – politisch viel bewirkt hat der Druck der EU auf die Türkei, sich schon vor Beginn möglicher Verhandlungen für einen Beitritt zu rüsten. Das kann man an Sezgin Tanrikulu sehen: Der 41-Jährige leitet die Anwaltskammer von Diyarbakir und vertritt die Menschenrechtsstiftung in dieser Region. Vor sieben Jahren erhielt der bullige Mann den Welt-Menschenrechtspreis der Robert-Kennedy-Organisation – „einfach, weil ich hier weitergelebt habe“, wie er bescheiden sagt. Wegen seiner Menschenrechtsaktivitäten landete Tanrikulu früher häufiger im Gefängnis – er findet das so selbstverständlich, dass er es fast zu erwähnen vergisst. Er berichtet von Fortschritten bei den Menschenrechten in Südostanatolien, Beschuldigte hätten immer öfter die Möglichkeit, einen Anwalt zu sprechen, selbst die Sicherheitskräfte hätten sich daran gewöhnt, dass immer ein Anwalt dabei sei.

Ganz neu sei die Unterstützung des hiesigen Gouverneurs bei einer Informationskampagne für Ortsvorsteher in der Region darüber, welche Rechte sie besäßen. „Allein hätten wir das nie geschafft“, sagt Tanrikulu, „das ist alles nur möglich wegen der Sache mit der EU.“ Und die Leute wüssten, dass diese Fortschritte mit der EU zusammenhingen. Als etwa der Erweiterungskommissar Günter Verheugen vor ein paar Monaten mit einem Hubschrauber während einer Besuchstour bei einem Dorf landete, das früher einmal wegen angeblicher Unterstützung der kurdischen Widerstandsbewegung geräumt worden war, fragt der EU-Politiker rund heraus: „Nützt euch die EU?“ Die Dorfbewohner seien verwirrt gewesen, ob dieser, ihrer Ansicht nach naiven Frage: „Natürlich!“, sagte einer schließlich. Die EU werde zwar keine Wunder vollbringen, meint Tanrikulu, aber die Leute erhofften sich von ihr vor allem Fortschritte bei den Menschenrechten – und da gebe es wie bei der Demokratisierung der Gesellschaft spürbare Verbesserungen.

Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan habe seit 2002 41 der 180 Verfassungsartikel geändert, ebenso 300 Gesetze, erklärt Tanrikulu. Es sei die „intensivste Gesetzgebungszeit“ seit Gründung der Republik – abgesehen nur von der Zeit der Militärdiktatur (1980–1983). Praktisch einziger Kritikpunkt Tanrikulus: Die Regierung sehe diese Veränderungen fast nur im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt und tue dies alles nicht aus eigenem, türkischem Interesse. Als die Anwaltskammer eine Stellungnahme zu den beabsichtigten Gesetzesänderungen an die Regierung schickte, kam noch nicht mal eine Empfangsbestätigung. Die gleiche Stellungnahme schickten sie deshalb nochmals in Englisch über die EU-Kommission in Brüssel an die Regierung. Nun kam die Antwort sofort, erinnert sich der Anwalt.

Skepsis im Wasseramt

Der Bürgerkrieg gegen die Kurden war Jahrzehnte lang das Hauptproblem Südostanatoliens. Tanrikulu ist Kurde. Deshalb erzählt er noch die Anekdote, wie er sich 1984 als Jura-Lehrkraft an der hiesigen Universität bewarb. Der Vize-Fakultätsleiter fragte ihn, ob er nun Türke oder Kurde sei. Er antwortete: „Ich bin Kurde und türkischer Staatsbürger.“ Noch einmal die selbe Frage – mit der selben Antwort. „Ich bekam die Stelle nicht“, erzählt Tanrikulu, „heute bin ich froh darüber.“

Sind also alle euphorische Pro-Europäer, gibt es hier in der Provinz keine Skepsis über einen EU-Beitritt? Doch. Murat Tezcan, Leiter des Wasseramtes in Sanliurfa, ist skeptisch. Sein Blick richtet sich auf das hiesigen Staudamm- und Entwicklungsprojekt in Südostanatolien und damit auch auf Schwierigkeiten, was den europäischen Standard anbelangt. Deprimierend seien die Gegebenheiten, sagt er. Das Projektgebiet hat eine Fläche von über 75.000 Quadratkilometern, neun Prozent der gesamten Türkei. Das Ziel, 1,7 Millionen Hektar zu bewässern, sei fern, über 100 Bewässerungsprojekte seien noch nicht verwirklicht. „Bis es hier ist wie in Westanatolien, braucht man noch eine Generation.“ Aber das Leben in Afghanistan solle ja auch in 100 Jahren so sein wie in Paris, ergänzt er sarkastisch. „Man wird sehen.“