Die Türkei ist keine Konkubine

AUS ISTANBUL UND ANKARA SABINE HERRE

Samstagabend in einem Restaurant im Zentrum von Istanbul. An einem Tisch sitzen drei ganz in Schwarz gekleidete junge Männer und eine Frau. Sie trägt ein tief ausgeschnittenes Kleid, und das Rückendekolletee beunruhigt ihren Freund dermaßen, dass er den ganzen Abend die Finger nicht davon lassen kann. Am Tisch gleich daneben verbringen vier Frauen ihren Feierabend. Sie sind wohl ebenfalls um die 30 Jahre alt, alle vier tragen helle Kopftücher in Blau und Rosa. Am Ende des Abends zahlen sie mit Kreditkarte und lassen sich den Rest des Essens in Alufolie einpacken.

Die türkische Gesellschaft ist gespalten. Das zumindest hören wir auf dieser Reise immer wieder. Dies sagt ein leitender Redakteur von CNN-Turk in Istanbul ebenso wie eine Verteidigungsexpertin in Ankara. Gespalten in Ost und West, Arm und Reich, säkularisiert und religiös, in die Anhänger der alten laizistischen Ideologie von Kemal Atatürk und die Wähler der neuen regierenden Partei, der AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Nein, die türkische Gesellschaft ist nicht gespalten. Sagen andere Gesprächspartner. Eine Historikerin in Ankara, die lange mit einem US-Amerikaner verheiratet war und eine christlich-islamische Beziehung lebte. Oder eine Abgeordnete der oppositionellen Sozialdemokraten. Sie macht unmissverständlich klar, dass derzeit die Unterschiede zwischen Regierung und Opposition nur „sehr schmal“ sind: „Wir arbeiten als nationales Team.“

Zumindest in einer Frage ist die Nation vereint: wenn es um die Europäische Union geht. Mehrere Meinungsumfragen haben eine Zustimmung zum EU-Kurs Erdogans von bis zu 80 Prozent ermittelt. Hier machen auch die sonst der AKP eher kritisch gegenüberstehenden Frauenorganisationen, Menschenrechtsvereinigungen, die christlichen Kirchen oder die Verbände der Minderheiten keine Ausnahme. Im Gegenteil. Je schneller es mit den Verhandlungen in Brüssel vorangehe, um so schneller werde sich ihre Situation verbessern. „Der EU-Sog ist der Kitt, der alles zusammenhält“, so bringt es Gerald Knaus, der in Istanbul die „European Stability Initiative ESI“ leitet, auf den Punkt.

Der Beitritt: eine Frage der Ehre

Ein eindeutiges Nein wird daher auch all jenen entgegengeschmettert, die danach fragen, ob eine „privilegierte Partnerschaft“, wie sie etwa die CDU vorschlägt, für die Türkei nicht eine Alternative zur EU-Vollmitgliedschaft sein könnte. Außenminister Abdullah Gül: „Mit der Zollunion und unserer Mitwirkung bei der Sicherheitspolitik der EU haben wir bereits einen sehr speziellen Status. Daher ist es unmoralisch, uns die privilegierte Partnerschaft als Zukunftsmodell anzubieten.“ Und der frühere türkische OSZE-Botschafter Yalim Eralp sagt: „Unser Ziel ist es, in Europa mitzubestimmen. Nichts weniger.“

Wenn man nun jedoch nicht führende Politiker, sondern den Türken von der Straße nach den Gründen für einen EU-Beitritt befragt, bekommt man in der Regel nur eine einzige Antwort: „Weil es uns die Europäer seit 40 Jahren versprechen.“ Auch Gerald Knaus vom ESI musste feststellen, dass 60 Prozent der Türken nicht wissen, was ein EU-Beitritt eigentlich bedeutet. Selbst Ministerpräsident Erdogan hatte noch im September gezeigt, wie wenig er bisher vom System der EU verstanden hat. Als der damalige Erweiterungskommissar Günter Verheugen auf eine Reform des veralteten Ehebruchsparagrafen drängte, verbat sich Erdogan jede Einmischung in die Souveränität des Landes. Genau dies jedoch ist ein Grundprinzip der Europäischen Union: der Verzicht auf nationale Souveränität.

Bei der Frage der „PP“, der privilegierten Partnerschaft, liegt das Problem freilich auch aufseiten ihrer Protagonisten. Bis heute hat der Vorsitzende des Bundestag-Europaausschusses, Matthias Wissmann (CDU), gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung nur ein fünfseitiges Papier vorgelegt. In diesem findet sich neben der Erweiterung der Zollunion zur Freihandelszone und der Aufstockung der jährlichen EU-Hilfsprogramme von derzeit 200 Millionen Euro auf eine nicht genannte Summe wenig, was die Türkei reizen könnte.

Entscheidender aber als die konkrete Ausformulierung der PP ist etwas anders: Auch wenn die privilegierte Partnerschaft fast so umfassend wäre wie eine Vollmitgliedschaft, in der Türkei würde sie letztlich immer als Zurückweisung, als Erniedrigung verstanden. Mitglied in der EU zu werden, das ist für die Türken eine Frage der Ehre. Der sozialdemokratische Oppositionsführer Deniz Baykal über die PP: „Die Türkei hat großen Respekt vor Europa, aber sie wird sich nie damit abfinden können, Europas Konkubine zu werden.“

Während die Vollmitgliedschaft also das einzige Ziel ist, das die Türkei akzeptieren möchte, befindet sich Ankara bei der Frage, wann dieses Ziel erreicht sein wird, nicht allzu weit von den Einschätzungen in Brüssel entfernt. Zehn Jahre wird es sicher dauern, meint Ahmet Acet vom Generalsekretariat für EU-Angelegenheiten in Ankara. Und auch mit dem letzten Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte auf dem Weg in die EU kann der Botschafter gut leben: „Er ist fair, auch wenn er uns nicht glücklich macht.“ Auswärtige Diplomaten billigen dem Land bei der Erfüllung der „Kopenhagener Kriterien“, die die Voraussetzung für den Beginn von Beitrittsverhandlungen sind, dagegen nur eine „Vier minus“ zu. Was übersetzt „weniger als ausreichend“ heißt. Türkische NGOs kritisieren, dass sich Günter Verheugen mit seinem Bericht „zu sehr um die christlichen und nationalen Minderheiten und zu wenig um die allgemeine Menschenrechtslage in der Türkei gekümmert“ habe.

Menschenrechte „Vier minus“

Tatsächlich sind viele Formulierungen Verheugens zu Presse- und Meinungsfreiheit wenig konkret. Was bedeutet es zum Beispiel für lokale Medien, wenn es in dem Bericht heißt, dass „Bußgelder eine unverhältnismäßige Belastung darstellen, die zur Einstellung der Veröffentlichungen oder (…) der Selbstzensur führen können“? Und was hat man von der auch im Ausland hochgelobten „Reform“ des Strafgesetzbuches zu halten, wenn besonders kritisierte Paragrafen zunächst gestrichen, dann aber an anderer Stelle wieder eingeführt wurden, wie Menschenrechtsorganisationen entdeckten. 339 Anträge auf Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen haben die hierfür neu eingerichteten Zentren allein im August und September erhalten.

Zwar hat Erdogan noch letzte Woche mit viel Presserummel einen „Garten der Religionen“ an der türkischen Riviera eingeweiht – die Lage der christlichen Gemeinden im Land hat sich jedoch kaum verbessert. Entgegen früherer Versprechungen, so die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM), sollen christliche Kirchen nun doch keinen öffentlich-rechtlichen Status erhalten. Sie dürfen keine Gebäude besitzen und auch keine eigenen Geistlichen ausbilden. Bewegt sich das Land also schon wieder weg von Europa, wie es der IGfM-Chef Karl Hafen formuliert.

Scheitern die Verhandlungen?

Da man in Brüssel all diese Probleme ziemlich genau kennt, hat man der Türkei Hindernisse auf dem Weg in die EU gebaut. So muss Ankara nicht nur – wie alle EU-Kandidaten – das 83.000 Seiten starke Gesetzeswerk der Union in die nationale Rechtsordnung übernehmen. Es muss zugleich nachweisen, dass die Behörden diesen acquis communautaire auch in die Praxis anwenden. Sonst wird kein neues Verhandlungskapitel eröffnet, die Verhandlungen werden also praktisch gestoppt.

Die letzte Erweiterungsrunde hat gezeigt, das die EU-Begeisterung der Polen oder Tschechen umso schneller nachließ, je deutlicher wurde, welche Opfer mit einem Beitritt verbunden sind. Gerald Knaus vom ESI, der die Reformen der Türkei als „Wunder vom Bosporus“ bezeichnet, stellt daher die Frage, ob der derzeitige Enthusiasmus ausreichen wird, um die künftigen Schwierigkeiten zu bewältigen. Und genau hier könnte es bald zum Aufeinanderprallen von zwei politischen Kulturen kommen.

Laut Verfassung ist die Türkei ein „unitaristischer Staat“ mit einem „einzigen Volk“. Wer die Türkei und ihre staatlichen Organe kritisiert, kann noch immer wegen Terrorismus beschuldigt werden. „Die Türken“, so fasst es der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul, Hans Schumacher, zusammen „ertragen Kritik an ihrem Staat nur schwer.“ Doch diese Kritik wird künftig nicht nur aus Brüssel kommen. Unter dem Druck des ökonomischen und politischen Anpassungsprozesses wird sie auch im Land selbst wachsen.

Recep Tayyip Erdogan hat daher zwei Möglichkeiten. Entweder er setzt weiterhin auf den starken Staat, der versucht, alles unter Kontrolle zu halten. Dazu passt, dass inzwischen darüber spekuliert wird, dass Erdogan die türkische Verfassung grundlegend verändern und ein Präsidialsystem wie in Frankreich einführen will. Die Mehrheit im Parlament und auch in der Bevölkerung wäre da: Die Anhängerschaft der AKP, der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, ist von 34 Prozent im November 2002 auf rund 50 Prozent gewachsen.

Oder Erdogan bricht mit der türkischen Tradition und schafft ein pluralistisches System mit einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Ein System, in dem es möglich ist, die Interessen der Gewinner und Verlierer der EU-Verhandlungen auszutarieren und zugleich die wachsenden islamischen und islamistischen Tendenzen im Land zufrieden zu stellen. Tendenzen, die es vor allem in der Regierungspartei selbst gibt. Anders ausgedrückt: Erdogan muss verhindern, dass die AKP und das Land sich während des Beitritts-Gespräche wirklich spalten. Diplomaten in Ankara gehen davon aus, dass die Verhandlungen ziemlich schnell scheitern könnten.