Der Uefacoup des Zweitliga-Mercedes

Mit Mut zu Fehlern und kontrollierter Drogenoffensive feiert Alemannia Aachen das 2:0 bei AEK Athen

ATHEN taz ■ Gegen halb 3 beim Bankett im feinen Athener Hotel Divani Apollon wurde das griechische Bier der Marke „Mythos“ längst aus Flaschen getrunken. Die Spieler sangen die Songs der Fans nach („Sichooone, ohohohooo“), der Präsident hielt eine kurze Rede, strahlend wie ein Vierjähriger unterm Weihnachtsbaum („etwas ganz Grandioses, was wir erleben durften“), und der Geschäftsführer verweigerte sich: „Mir fehlen die Worte.“ Um 3.12 Uhr zündete sich Sergio Pinto binnen einer Stunde die vierte Stuyvesant an und gab dem Begriff Viererkette damit eine neue Bedeutung.

Hemmungsloser Drogenkonsum war angesagt; Kapitän Erik Meijer hatte seinen Jungs „Alkoholinfusionen die ganze Nacht“ empfohlen, am liebsten, spaßte der Mittelstürmer, hätte er sich die Nacht hindurch noch „in jedem Athener Lokal sehen lassen, wo eine AEK-Fahne hängt“. Ein Fußballteam samt Entourage in schieren Seinsseligkeiten. Der Athen-Aufenthalt samt Familien wurde spontan um einen Tag verlängert, anders schienen Ausnüchterung und heile Heimkehr nicht sicherzustellen.

Meijer (35) hat viel erlebt in seiner Karriere, Champions League in Leverkusen, die Jahre als Publikumsliebling beim HSV und in Liverpool, einmal hat er auch in Hollands Elftal gespielt. Und er begann auf die Frage, ob das 1:0 (57.) sein wichtigstes Tor war, schon auszuholen, na ja, so viele wichtige – und grätschte sich dann ab: „Doch, das war es.“ Das Bekenntnis kam gleich nach dem Schlusspfiff, wo die 700 Printenfans gerade das Olympiastadion beschallt hatten: „Und so spielt ein Zweitligist“, ergänzt um die aktualisierte Weise: „In Europa kennt uns jede Sau …“ Diese Alemannia entwickelt sich zum Phänomen, das jeden Respekt vor alten Fußball-Weisheiten verloren hat. Trainer Dieter Hecking war in der Pause nach ausgeglichenem Spiel energisch geworden: „Hört auf, Fehler vermeiden zu wollen. Macht endlich Fehler! Akzeptiert die dann. Aber traut euch was!“ Um mit Automobilmethaphorik anzustacheln: „Bis jetzt habt ihr Anfahren am Berg geübt. Jetzt sind wir ein Mercedes, und es geht mit Vollgas den Berg runter.“ Willi Landgraf hatte die Terminologie später längst verinnerlicht: „In der zweiten Halbzeit haben wir die Handbremse gelöst.“ Deutlich gezeigt hatte sich das auch auf dem Platz: Nach 83 Minuten hatten die technisch brillanten, aber nach dem Rückstand mäßig engagierten Griechen Eckball. Als Einwechselstürmer Daniel Gomez zurückeilen wollte zur Defensivverstärkung, scheuchte ihn Verteidiger Sichone gestenreich an die Mittellinie. Von wegen den dünnen Vorsprung über die Zeit retten – der Aachener Fußball-Mercedes kennt keinen Rückwärtsgang. Eine Minute später schloss Gomez „einen perfekten Konter“ (Hecking) zum 2:0 ab, und „das bedeutendste Spiel der Vereinsgeschichte“ war entschieden.

„Unsterblich“ werde sich die Elf im Siegesfalle machen, hatte Haudegen Landgraf vorher erklärt, und damit „in die Geschichtsbücher schreiben“. Am frühen Morgen wusste Landgraf („Mit sechs Spielen bin ich jetzt wohl auch Zweitliga-Uefacup-Rekordspieler für 36-Jährige“) noch nicht, wie es sich anfühlt zwischen Kohl, Clinton, Pelé und Gorbatschow: „Wahnsinn! Aber jetzt sind wir alle drin im Geschichtsbuch. Unglaublich!“ Neben dem Begriff „einfach geil“ eine der häufigsten Entgegnungen übrigens. Alemannia 2004: Kaum machen sie sich daran, einen Triumph zu verarbeiten, kommt schon der nächste, noch größere. Gut für die siegegeschüttelten Seelen, dass das Jahr vorbei ist. Manager Jörg Schmadtke weigerte sich auszurechnen, wie groß die finanziellen Segnungen durch die nächste Runde sein könnten, hofft aber auf die vorlaute Zusage von ARD-Sportchef Heribert Faßbender, der eine Live-Übertragung des nächsten Spiels im Ersten versprochen hat: „Der Herr Faßbender wird zu seinem Wort stehen müssen.“ Als nächster Europa-Feiertag steht wieder ein Heimspiel an in „unserem Wohnzimmer in Köln“ (Hecking). Für die Auslosung wünschten sich fast alle Alemannen einen Club von der Insel – wegen des Auswärtsspiels. „Da zu spielen“, so Meijer, „ist einfach das Größte.“

Dem eifersüchtigen Ligarivalen 1. FC Köln wird der kleine Nachbar derweil langsam unheimlich: Selbst die exakte Zuschauerzahl von 4.711 (die AEK-Fans waren nach dem vorherigen Ausscheiden ihrer Elf in eisig-kalter Nacht lieber zu Hause geblieben) war ein duftender Gruß ins Kölnische. Aber zum Trost hat auch der FC vier Tage später wieder ein Topspiel im Zweitliga-Alltag. Dann kommt – Alemannia Aachen.

BERND MÜLLENDER