PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Zu Besuch beim Paten

Fast wäre ich das 100ste Mafia-Opfer in Neapel geworden. Es wäre ein schöner Tod gewesen. Ich liebe runde Zahlen

Dieses Jahr habe ich das 100ste Mafia-Opfer von Neapel leider verpasst. Schade. Inzwischen sind es schon 121. Ich liebe runde Zahlen. Jubiläen aller Art. Nächstes Jahr, zum Beispiel, wird die eiserne Hand von Götz von Berlichingen 500 Jahre alt, die er sich nach der Amputation (ein bedauerlicher Schlacht-Unfall) als Prothese anfertigen ließ. Liegt heute im Museum. Ich hoffe, dass sich jemand dieses Themas annimmt und es entsprechend würdigt. Am besten unter der Überschrift: „Hand im Arsch“.

Heute vor 50 Jahren zum Beispiel, da geschah sehr viel Unbedeutendes. In Emden wurde das Schützencorps gegründet, in Konstanz heiratete Friedrich Jäger seine Marie Schneider und der Österreicher Sepp Jöchel stieg auf einen Berg namens Cho Oyu. Und nur, weil das jetzt 50 Jahre her ist, erinnert man sich wieder daran und feiert ein Fest. Der Mensch, ganz besonders der deutsche Mensch, lebt von und für das Jubiläum. Kürzlich erhielt ich eine Pressemitteilung, dass der Fliegenfänger aus Leim seinen 100sten Geburtstag begeht. Ich war begeistert.

Das Luis Trenker nur 97 Jahre alt wurde, werde ich ihm nicht verzeihen. Es hätte bestimmt eine Redaktion in diesem Land gegeben, die hätte mich anlässlich seines 100sten an seinen Geburtsort geschickt, um eine einfühlsame Reportage zu schreiben. So wie seinerzeit nach Wilflingen in Oberschwaben. Ich saß mit rotgesichtigen Männern am Stammtisch im Gasthaus „Löwen“ und sang mit ihnen aus reiner Verzweiflung schwäbische Heimat- und Panzerlieder, nur damit mir diese verbockten Oberschwaben endlich etwas über ihr Verhältnis mit Ernst Jünger (100) erzählten.

Vor 100 Jahren revolutionierte Max Riese mit der Penatencreme die Babypflege und es wurde die Busstrecke zwischen Liestal und Reigoldswil (Schweiz) eingeweiht, um nur zwei der wichtigsten Jubiläen zu nennen.

Bahnchef Hartmut Mehdorn wird mit Sicherheit den 1.000sten Fahrgast auf der ICE-Strecke Hamburg–Berlin per Handschlag begrüßen. Der 100ste polnische Lastwagenfahrer, der im kommenden Januar ohne eingebaute „onbord-unit“ (Maut-Erfassungssystem, wir erinnern uns) von der Polizei gestoppt wird, muss keine Strafe zahlen.

So sind wir: Ein Jubiläum stimmt uns Deutsche menschenfreundlich. Wäre seinerzeit der 1.00.000ste Jude an der Rampe von Auschwitz mit einem Nelkenstrauß empfangen worden, die SS hätte es fotografiert und niemand sich gewundert. Auch über Leni Riefenstahl erschienen zum 100sten Geburtstag fast ausschließlich freundliche, versöhnliche Artikel.

Als im Juni 1997 die Camorra in Neapel im laufenden Jahr schon ihr 99stes Opfer erschossen hatte, wurde ich losgeschickt, um bei der Ermordung des 100sten pünktlich vor Ort zu sein. Ich mietete mich in einem Hotel ein und wartete. Aber nichts geschah. An einem der nächsten Abende ging ich in ein Restaurant in einem neapolitanischen Vorort, in dem zuvor schon mehrere Camoristi (Angehörige der neapolitanischen Mafia) erschossen worden waren, in der Hoffnung, endlich meinen Toten serviert zu bekommen. Vor dem Lokal stand ein bewaffneter Türsteher, der mir die Autoschlüssel abnahm.

Drinnen war eine Hochzeit. Ich setzte mich an einen freien Tisch und suchte vergeblich nach dem Feuerzeug in meiner Tasche, um mir meine Zigarette anzuzünden. Einen schwarz gekleideten Herrn, den ich für den Kellner hielt, bat ich, mir Feuer zu geben.

Sofort verstummte der Saal. Alle schauten mich wie gebannt an. Der schwarz Gekleidete wandte sich zu den Gästen und sagte mit einer verächtlichen Geste: „Feuer. Er will von mir Feuer.“ Alle lachten. Dann schnippte er mit den Fingern einem Kellner und zeigte auf mich. „Bring ihm Feuer!“

Der Mann war, wie ich später erfuhr, einer der größten Paten der Stadt. Mir zittern noch heute die Finger, wenn ich daran denke. Um ein Haar wäre ich selbst der 100ste Tote von Neapel gewesen. Eigentlich ein schöner Tod. Und 100 Jahre später hätten bestimmt viele an mich gedacht.

Haben Sie mal Feuer? kolumne@taz.de Morgen: M. Urbach über den PERFEKTEN KAUF