Ein Chef mit sozialem Gewissen für die WTO

Gute Wahl: Die EU schlägt ihren früheren Handelskommissar Pascal Lamy als Leiter der Welthandelsorganisation vor

Sollte Erfahrung den Ausschlag geben, wäre Pascal Lamy der richtige Mann an der Spitze der Welthandelsorganisation WTO. Schon von 1985 bis 1994 bereitete er als Kabinettschef des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors dessen Auftritte bei G-7-Gipfeln vor. Und in den vergangenen fünf Jahren war der gebürtige Franzose als Außenhandelskommissar EU-Verhandlungsführer bei der WTO. Die Regierungschefs der Union schicken ihn nun als Kandidaten ins Rennen. Entschieden wird Ende Mai nächsten Jahres.

Lamy hat sich in Brüssel einen exzellenten Ruf erworben. Dabei war die Skepsis groß, als er vor fünf Jahren sein Amt antrat. Ein Subventionsskandal aus der Delors-Ära wurde ihm angelastet. Zudem hatte er zwischenzeitlich auf der anderen Seite des Verhandlungstischs Platz genommen: Als Direktoriumsmitglied der Großbank Credit Lyonnais handelte er in den späten Neunzigerjahren ein Sanierungskonzept aus, das die Geduld von Wettbewerbskommissar Karel van Miert strapazierte. Doch mit der neuen Rolle als EU-Kommissar in Brüssel verinnerlichte der als asketisch und diszipliniert geltende Lamy auch die dort geltenden Regeln. Der praktizierende Katholik mit sozialistischem Parteibuch bekannte sich zwar weiterhin zum „christlichen Sozialismus“ seines Vorbilds Delors. Bei der WTO aber trat er als Verfechter des Freihandels auf – oft genug gebremst von Politikern, die geistiges Eigentum und kulturelle Vielfalt im Strudel der Globalisierung verschwinden sehen.

Treu blieb Lamy seinem sozialen Bekenntnis. Er trieb die „Everything but arms“-Strategie der Union voran, die den ärmsten Ländern beinah unbeschränkten Zugang zum europäischen Markt bescheren und so einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten sollte. Nationale Egoismen sorgten aber dafür, dass am Ende vom schönen Plan nicht viel übrig blieb.

Seit Dezember leitet Lamy einen Thinktank zu Europafragen in Paris. Doch hat er schon angedeutet, dass ihm ein Ruf zur WTO nach Genf gefallen würde. Die Chancen für den Umzug in die Schweiz stehen nicht schlecht. Der amerikanische Chefunterhändler Robert Zoellick hat jüngst vorsichtige Zustimmung der US-Regierung zu dem Personalvorschlag signalisiert.

Die Schwellen- und Entwicklungsländer allerdings, die sich gegen das Diktat der Industrieländer in der WTO zu wehren versuchen, werden sich davon nicht beeindrucken lassen. Die meisten würden ihre Interessen beim ehemaligen WTO-Botschafter Uruguays, Carlos Perez del Castillo, besser aufgehoben sehen. Die Afrikaner wollen den Außenminister von Mauritius, Jaya Krishna Cuttaree, unterstützen. Kenia denkt allerdings laut darüber nach, einen eigenen Kandidaten zu benennen. Lamys Chancen steigen, wenn sich die ärmsten Länder nicht auf einen Kandidaten einigen. Seine Wahl wäre für sie nicht die schlechteste: Er wird sein soziales Gewissen nicht an der Garderobe ablegen.

DANIELA WEINGÄRTNER