Der letzte Wille ist unerforscht

Enquetekommission des Bundestags übt Kritik am Gesetzentwurf von Justizministerin Zypries zu Patientenverfügungen. Kann ein Patient sein Leiden vorab überhaupt einschätzen? Abgeordnete versprechen eigenen Entwurf, auch wenn Zypries zweifelt

VON ULRIKE WINKELMANN

Niemand weiß, „was ein Mensch im Wachkoma erlebt“, sagt der Hamburger Psychologe Michael Wunder. „Doch wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was die Literatur darüber berichtet“, sei es unverantwortlich, einen solchen Patienten sterben zu lassen, indem man die künstliche Ernährung abstellt.

Dies findet auch die Mehrheit der Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Bundestags. Sie verlangt, dass lebenserhaltende Maschinen in solchen Fällen nicht abgestellt werden – selbst wenn ein Patient verfügt hat, er wolle nicht künstlich ernährt werden.

Scharf kritisiert die überparteiliche Kommission deshalb den Gesetzentwurf zur Patientenverfügung von Justizministerin Brigitte Zypries (SPD): Er gebe der Selbstbestimmung von Patienten zu viel Raum. Ein Mensch könne nicht wissen, was er etwa im Wachkoma fühlen wird. Vielleicht wolle er weiterleben – auch wenn er sich das vorher nicht vorstellen konnte.

Zypries will die Patientenverfügung stärken und Hürden aus dem Weg räumen, die verhindern, dass dem erklärten Patientenwillen gefolgt wird. Die Kommissionsmehrheit hält dagegen, Zypries missachte die Gefahr, dass Menschen in den Tod gedrängt werden, weil sie ihren Verwandten lästig fallen oder weil ihre Behandlung teuer ist. Einigkeit herrscht in allen Parteien lediglich darüber, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben soll, sich darüber zu äußern, wie er am Ende seines Lebens versorgt werden will.

Doch muss er dies rechtzeitig schriftlich tun, falls er einmal bewusstlos wird, oder reicht ein mündliches Bekunden – „ich will nicht an Apparaten hängen“? Muss ein Gericht regelmäßig angerufen werden, oder können Ärzte, Angehörige und Betreuer auch ohne Richter zum Konsens finden? Welche Fälle sind vorstellbar, in denen Wille und Wohl auseinander klaffen – wenn die Umsetzung einer Patientenverfügung den Ärzten medizinisch und menschlich unvertretbar vorkommt? Und: Braucht es überhaupt ein Gesetz?

Auch in der Enquete-Kommission gehen hierüber die Meinungen weit auseinander, obwohl sie immerhin schon einen „Zwischenbericht“ produziert hat. „Wir werden in den nächsten Monaten noch sehr viel über konkrete Krankheitsbilder reden“, sagte die grüne Kommissions-Obfrau Christa Nickels gestern. Zypries’ Entwurf erklärte Nickels für „tot“. Die Justizministerin selbst gab gestern zu, dass ihr Entwurf Nachbesserung brauche. Sie blieb aber dabei, dass eine Patientenverfügung in jeder Krankheitsphase bindend sei.

Zypries will das Gesetz bis zum Frühsommer diskutieren lassen, damit es zu 2006 in Kraft treten kann. Doch scheint die Enquetekommission nun im Bundestag mehr Widerstand zu organisieren, als bislang gedacht: Zypries’ Vorwurf, bislang sei bei den Abgeordneten kein echtes Interesse erkennbar, selbst einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, wies der Kommissionsvorsitzende René Röspel (SPD) als „unverschämte Unterschätzung der Parlamentarier“ zurück.