Sieg und Heil in Münster

Peter Beat Wyrsch hat in Münster eine unsägliche Interpretation von Richard Wagners „Lohengrin“ abgeliefert und den historischen Hintergrund vollständig ausgeblendet

Im Jahr 1999 begann Will Humburg, damals Generalmusikdirektor in Münster, dank kräftiger Unterstützung örtlicher Geldgeber und der Landesregierung, mit dem Regisseur Peter Beat Wyrsch den „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner auf die nicht eben große Bühne zu wuchten. Die Inszenierung profitierte von der Erfahrung, die Wyrsch 25 Jahre lang mit der Pocket Opera in Nürnberg gesammelt hatte – und von den einfach-genialen Bühnen-Installationen von Roland Aeschlimann. An den Erfolg, den dieser „Ring“ hatte, sollte jetzt eine Neuproduktion des „Lohengrin“ in Münster anknüpfen. Wieder mit Wyrsch als Regisseur, allerdings ohne Aeschlimann und den dynamisch-exakten Humburg.

Richard Wagners „Lohengrin“ mit seiner betörend „romantisch“ schwebenden und sich emphatisch aufschwingenden Musik ist in besonderer Weise ein historisch bedingtes Werk, das dennoch zugleich auf allgemein Menschliches zielt: auf den Konflikt zwischen dem Mann, der seiner Sendung gewiss ist, und dabei höchst abstrakte Regeln beherzigt, und der Frau, die durchaus konkret wissen möchte, mit wem sie das Bett teilt.

Von Geschichtlichem genährt ist diese Romantische Oper durch Zeitpunkt, Ort und Umstände der Entstehung: Der Sächsische Hofkapellmeister Wagner griff 1845 eine Episode aus der Regierungszeit des ersten Sachsenkaisers auf, der unter dem Namen „Heinrich der Vogler“ als Reichseiniger und Verteidiger gegen Angriffe aus dem Osten gefeiert wurde. Der Komponist bediente damit die in den Vormärz-Jahren patriotisch gefärbte Begeisterung für mittelalterliche Sujets und kommentierte nicht nur die damals stagnierenden und dann bis auf weiteres scheiternden Bestrebungen, Deutschland politisch zu vereinigen, sondern präsentierte – was mit Zeitverzögerung als politische Allegorie wirkte – einen von höheren Mächten gesandten Erlöser und Führer, der allerdings nicht nur als Ehemann, sondern auch als Politiker scheitert.

Der Hintergrund des musikalisch-messianischen Wunders ist ziemlich großdeutsch angelegt: Brabant mit seiner Hauptstadt Antwerpen erscheint als kerndeutsches Land und Massenbasis von Chören, die Sieg und Heil rufen. Der Anführer der NSdAP, der den „Lohengrin“ in besonderer Weise in sein kaltes Herz schloss, entnahm dieser Oper nicht nur die Ruf-Rituale für seine „Bewegung“ und dann das gleichgeschaltete Volk, sondern auch die historische Mission des Kampfes gegen „des Ostens Horden“.

Die Sache ist also, nach hinten wie von vorne her betrachtet, historisch belastet und vertrackt. Die Inszenierung von Peter Beat Wyrsch entzieht sich dem Problem in Gänze, indem sie von ihm abstrahiert: Keine Spur von sächsischer Frühgeschichte oder überhaupt mittelalterlichen Insignien, kein Schatten von Antwerpen – aber auch keiner der Rezeptionsgeschichte vor 1945. Heinz Balthes richtete die Bühnenausstattung an der Sparkassen-Ästhetik vergangener Jahrzehnte aus: alles glattpoliert in Blau und Neon. Und die beiden Chöre sitzen in Gebilden, die aussehen wie Einsätze in Geldkassetten. Im III. Aufzug wird in den blauen Raum das Logo einer besonders deutschen Großbank herbeizitiert: ein dicker Rahmen, durch den der Blick ins Brautgemach gehen könnte, wenn es ein solches gäbe.

Das Loch mag tiefsymbolisch genommen werden für die seelischen Abgründe, die sich da offensichtlich bei Leuten auftun, die ihre körperliche Verbindung weder szenisch auch nur andeuten noch ihre Entzweiung körpersprachlich ausdrücken. Ob sie nicht können oder nicht durften, ist einerlei: Die Sopranistin Anna-Katharina Behnke ist als billige Blondine inszeniert, die wie in Trance durchs Leben schwebt – und auch dem Titelhelden Norbert Schmittberg geht nicht nur alles Charismatische ab, sondern ebenfalls die stimmliche Zielsicherheit.

Der Kapellmeister Rainer Mühlbach schlägt sich wacker durch die Notentextmenge, wobei ihm die Poesie des Vorspiels in ein allzu prosaisches Mezzoforte pendelt. Insgesamt stellt sich angesichts der vielen musikalischen Unzulänglichkeiten ernsthaft die Frage, wie sehr das Stadttheater sein Personal überfordern darf. Doch das Münsteraner Publikum zeigt sich dankbar – auch über die szenische Unbedarfheit. Der schon beim „Ring“ nicht unproblematische Reduktionsmechanismus der großen romantischen Oper auf Taschenspielerformat geht beim „Lohengrin“ gründlich in die tote Hose. Das viele Blau auf der Bühne zaubert kein esoterisches Wunder herbei. „Sieg/Heil“-Rufe von den Brettern können das Naivitätsrecht später Geburt nicht für sich in Anspruch nehmen.

FRIEDER REININGHAUS