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: Einbruch in die Männerdomäne

Nicole Selmer hat das erste umfassende Buch über weibliche Fans von Männerfußball geschrieben. Informativ, ohne belehrenden Ton und absolut überfällig

Es gibt Fußballbücher, die tun nicht Not. Das hundertste Werk über den Mythos Schalke zum Beispiel, der tausendste Beckham-Bildband oder die x-te Aufarbeitung des Wunders von Bern. Die 84. Minute heißt der neueste Einblick in die Ursuppe deutschen Nachkriegsselbstbewusstseins und er stammt aus ebenjenem Verlag namens Agon, der gleichsam ein wirklich notwendiges, überfälliges, schlicht: gelungenes Buch präsentiert. Es heißt „Watching the Boys Play“ und im Untertitel nennt die Autorin auch ihre Motive zum Quereinstieg in die Schreibbranche: Frauen als Fußballfans.

Nicole Selmer ist nämlich selbst so einer. Nebenberuflich sozusagen: Die studierte Literaturwissenschaftlerin ist im Haupterwerb Übersetzerin. Doch den Rest der Zeit – und davon bleibt offenbar eine ganze Menge – verbringt die 34-Jährige mit Fußball. Passiv wohlgemerkt, gelegentlich live, im Geiste permanent, vor allem aber nur für den des anderen Geschlechts. Und das ist immer noch eine exotische Situation. Deutschlands Frauen sind zwar amtierende Weltmeisterinnen, die Hälfte aller EM-Gäste am Fernseher waren hierzulande weiblich und auch in den Stadien steigt die Zahl doppelter x-Chromosomensätze beharrlich an. Aber Frauen im Fußballstadion – das ist vielerorts immer noch in etwa so akzeptiert wie Männer bei der rhythmischen Sportgymnastik.

Dagegen will Nicole Selmer, BVB-Fan aus Hamburg, gar nicht anschreiben. Ihr bebildertes 160-Seiten-Buch zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der weiblichen Fanszene gibt sich nicht missionarisch oder gar emanzipationsorientiert. Nein, sagt Selmer, „mir geht es um eine Zustandsbeschreibung“. Denn Fußball sei die Mitte der Gesellschaft. Dank Arenenwahn und Eventkultur sozusagen zutiefst sozialdemokratisch. „Für mich ist Männerfußball Teilhabe.“ Auch an einer Männerdomäne.

Um zu sehen, ob das ihren Genossinnen auf den Rängen der Republik ähnlich geht, hat sie 22 von ihnen interviewt. 16 bis 65 Jahre alt, abstrakte Fans von Großereignissen und eingefleischte Vereinsanhängerinnen von Hertha bis HSV, St. Pauli bis zu ganzen Staaten. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, Ängsten, Vorlieben und Abwehrkämpfen. Sie tun es ausführlich und hoch interessant, vor allem aber: zum ersten Mal in Buchform.

Denn bislang kamen Frauen in heimischen Abhandlungen über die Fankultur entweder gar nicht oder nur am Rande vor. Besonders aber als Opfer und Groupies. Im Zuge der EM sind mehrere Bücher zum Thema Frauen und Fußball erschienen. Und sie alle behandeln das weibliche Geschlecht als das, als was es zumeist wahrgenommen wird: als Fremdkörper in einem gesunden Organismus namens Fußball. Das macht Nicole Selmer anders. Sie forscht und hört zu, sie lässt reden und kommentiert nur ihre eigenen Erkenntnisse. „Wir können uns genauso aufregen, mitbrüllen und Lieder singen wie die Jungs“, sagt Carina (30) und es klingt wie eine Befreiung, mal loszuwerden, dass sie nicht wegen der strammen Stürmerwaden zum 1. FC Köln geht. „Wenn’s nötig ist, erklär ich auch Abseits“, schimpft die 29-jährige Nadja und bittet damit um mehr Akzeptanz. Das Buch, so Selmer im Vorwort, soll Frauen nichts über Fußball beibringen, sondern bestenfalls dem Fußball etwas über Frauen. Es betritt also frei von überflüssigem wissenschaftlichem Ballast literarisches Neuland. Das ist heutzutage fast so schwierig, wie unbekannte Territorien zu entdecken. Und allemal leichter, als noch ein Buch über Rahn zu schreiben und dass er schießen müsste … JAN FREITAG

Nicole Selmer: „Watching the Boys Play. Frauen als Fußballfans“. Agon Sportverlag, 160 Seiten, 15 Euro