Zähes Gipfelpoker

Der Brüsseler Gipfel drohte zu scheitern, weil die Staats- und Regierungschefs der EU der Türkei die Anerkennung Zyperns abringen wollten

AUS BRÜSSEL SABINE HERRE

Die 25 Staats- und Regierungschefs haben hoch gepokert – und verloren. Auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel wollten sie nicht nur die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen, sondern in einem Überraschungscoup zugleich auch einen wesentlichen Fortschritt bei der Anerkennung Zyperns durchsetzen. Das jedoch misslang. Ein Gipfelprotokoll.

Nach drei Stunden Verhandlungen verkündete der niederländische Ministerpräsident Balkenende am Donnerstagabend gegen 23.20 Uhr das wichtigste Ergebnis des Gipfeltreffens: Die EU hat ihren monatelangen Streit über die Türkei beendet. Erstmals in ihrer Geschichte wird die Union mit einem muslimischen Land Verhandlungen über eine Mitgliedschaft aufnehmen. Dann jedoch machte Balkenende deutlich, dass dieser historische Schritt nur unter einer Voraussetzung stattfinden kann. Die Türkei muss einen Schritt hin zur völkerrechtlichen Anerkennung Zyperns machen, sonst läuft nichts. Den schwarze Peter hatte damit der türkische Ministerpräsident Erdogan.

Entsprechend groß war der Ärger in der türkischen Delegation. Besonders die Forderung, Erdogan solle das so genannte Protokoll zum Ankara-Abkommen noch auf dem Gipfel paraphieren, wurde mit Unverständnis quittiert. In diesem Protokoll geht es um die Ausdehnung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei auf die zehn neuen Mitgliedsländer. Der türkischen Sender NTV meldete, Erdogan habe Balkenende vorgeworfen, dass die EU an den 600.000 Zyperngriechen größeres Interesse habe als an 70 Millionen Türken. Erdogan wörtlich: „Das kann ich meinem Volk nicht erklären.“

Und so begann die Zeit der bilateralen Gespräche. Schröder, Blair und Chirac, alle versuchten, Erdogan zu beruhigen. Versuchten, klar zu machen, dass die Paraphierung des Abkommens keine völkerrechtlichen Konsequenzen habe. Doch zunächst vergeblich. Gerüchte kursierten, Erdogan wolle Brüssel verlassen. Andererseits hatte Erdogan noch den ganzen Donnerstag über Bereitschaft zur Lösung der Zypernfrage gezeigt. Er sei bereit, in Nordzypern mit dem zypriotischen Präsidenten Papadopoulos einen „Friedenskaffee“ zu trinken, sagte er vor türkischen Journalisten. Dies wurde von Beobachtern als Versuch Erdogans gewertet, erneut über den im April gescheiterten UN-Plan zur Wiedervereinigung der geteilten Insel zu diskutieren. Dazu passte, dass am Freitagvormittag auch UN-Generalsekretär Kofi Annan an den Beratungen des Gipfels teilnahm. Zwar ging es dabei offiziell um die Bekämpfung von Terrorismus und Armut, doch auf der abschließenden Pressekonferenz stand die Zypernfrage ganz im Mittelpunkt.

Am Freitagvormittag ging es dann laut Diplomaten nur noch millimeterweise vorwärts. Gegen vier Uhr war schließlich der Kompromiss gefunden. Keine Paraphierung des Protokolls, sondern eine bloße schriftliche Erklärung, dieses noch vor Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober unterzeichnen zu wollen. Ein kleiner Fortschritt also, aber eben nur ein kleiner. Balkenende kommentierte: „Wir vertrauen darauf, dass alles gut gehen wird.“ Und der Luxemburger Außenminister sagte: „Die Türken müssen verstehen, dass wir keine Teppichhändler sind.“

Die schnelle Einigung der EU-Chefs auf Beitrittsgespräche mit der Türkei war vor allem durch das Einlenken einiger konservativer Regierungschefs möglich geworden. Sie bestanden nicht länger darauf, neben der EU-Vollmitgliedschaft der Türkei auch ein alternatives Verhandlungsziel – wie etwa eine privilegierte Partnerschaft – in das Abschlussdokument des Gipfels aufzunehmen. Stattdessen heißt es nun, dass das Bewerberland beim Scheitern der Beitrittsverhandlungen „durch eine möglichst starke Bindung vollständig in die europäischen Strukturen verankert wird“. Während der österreichische Bundeskanzler Schüssel dies als Erfolg seiner harten Verhandlungsstrategie bezeichnete, sprach Bundeskanzler Schröder von einer abstrakten Formulierung. Ein Unterschied zu den Erweiterungsrunden ist auch der Satz, dass die Verhandlungen „ein Prozess mit offenem Ende“ seien, „dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt“.

Dass die Verhandlungen mit der Türkei gerade am Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober, beginnen, verdankt Schröder dem britischen Premier Tony Blair: Die Briten haben in der 2. Jahreshälfte 2005 die EU-Präsidentschaft inne und sind so für den Beginn der Verhandlungen verantwortlich.