Gesucht, gefunden und wieder verloren

BEGEGNUNG Der Deutschafghane Hasib musste einst aus Kabul nach Berlin fliehen – zurück blieb sein Vater. Erst 20 Jahre später sehen sich die beiden Männer wieder – ihr Treffen ist von Sprachlosigkeit und Fremdheit geprägt

Zahlen: In Deutschland leben rund 100.000 Afghanen. Die meisten sind Flüchtlinge, die vor den Sowjets (ab 1979), dem Bürgerkrieg (90er-Jahre) und den Taliban (ab 1996) flohen. Hamburg ist zur Heimat der größten afghanischen Diaspora Europas geworden. Dort leben rund 22.000 Afghanen. ■ Status: Etwa 40.000 Exilafghanen verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis. Die anderen befinden sich entweder im Asylverfahren oder haben eine Duldung. ■ Integration: Während eine Minderheit eine islamisch-afghanische Mikrokultur pflegt, integriert sich eine große Gruppe vollständig, ohne dabei die afghanische Kultur und Sprachen (Paschtu/Dari) zu vernachlässigen. Ihr Bildungsgrad ist überdurchschnittlich hoch.

VON FRIEDERIKE BÖGE

Er hätte kaum einen unpassenderen Ort für das Treffen wählen können. Für das Wiedersehen mit seinem Vater nach mehr als 20 Jahren. Nach Bürgerkrieg, Gefangenschaft, Flucht und einem halben Leben am anderen Ende der Welt. Charahi Sedarat also – eine der staubigsten und meistbefahrenen Straßenkreuzungen von Kabul. In der Luft hängt der Qualm von Kebabständen und das Dröhnen der Generatoren, mit denen die Fotogeschäfte in der Straße ihren Strom erzeugen. Auf dem Bürgersteig stehen die bewaffneten Wächter der umliegenden Büros und die Straßenverkäufer mit ihren Telefonkarten und Bündeln an Geldscheinen für den Devisentausch. Kein Ort für große Gefühle.

Aber Hasib, der seinen vollständigen Namen und sein Foto nicht in der Zeitung sehen will, weiß keinen besseren Platz in Kabul. Wie auch? Er ist zum ersten Mal seit 1988 in der Stadt, in der er geboren wurde. Seit drei Tagen ist er da, und den Charahi Sedarat kennt er, weil er auf dem Weg vom Flughafen hier einen Unbekannten traf – einen deutschen Entwicklungshelfer –, bei dem er per Internet ein Zimmer angemietet hat.

Der Entschluss, seinen Vater zu suchen, liegt nur wenige Wochen zurück. Der Student saß in Berlin über seinen Informatikbüchern. Vielleicht trieb ihn der Drang, den Prüfungen zu entfliehen. Oder die täglichen Medienberichte über Afghanistan. Vielleicht auch das Gefühl, dass er, inzwischen 26 Jahre alt, selbst bald eine Familie gründen wird und deshalb noch einmal seinen Vater sehen wollte. Jedenfalls fliegt Hasib im Sommer 2008 nach Dubai und von dort weiter in die afghanische Hauptstadt. Seiner Mutter sagt er nichts, um ihr die Sorgen zu ersparen. Nur eine seiner vier Schwestern ist eingeweiht.

Zukunft braucht Herkunft

„Ich wusste nicht, was mich erwartet“, erinnert sich Hasib. Die lockigen schwarzen Haare hat er unter eine Baseballkappe gezwängt. Er wusste nicht, ob sein Vater noch in dem Haus im Stadtteil Kart-e Seh wohnt, aus dem Hasib als Sechsjähriger mit seiner Mutter und seinen Schwestern geflohen war. Der Vater war damals schon seit Monaten verschollen. Keiner wusste, ob er tot war oder von der Geheimpolizei des kommunistischen Regimes gefangen gehalten wurde – so wie Tausende andere, die nie zurückkehrten. In welchem Zustand würde er ihn antreffen? Wie würde er reagieren? Und wie würde er auf die Frage antworten, die Hasib ihm stellen wollte: Warum bist du in all den Jahren nicht zu uns nachgekommen?

Am ersten Tag seiner Suche fährt der Berliner Student mit dem Taxi nach Kart-e Seh. Die Straßen dort sehen alle gleich aus, und der Krieg hat den Stadtteil verändert. Es ist nicht das Kabul, das der 26-Jährige in seiner Erinnerung gespeichert hat, geronnen zu kleinen Standbildern. Wahllos fragt er Passanten, ob sie seinen Vater kennen. Der war früher ein angesehener Arzt und Kart-e Seh eine Wohngegend der überschaubaren Kabuler Mittelschicht. Ein paar Stunden später steht er tatsächlich vor dem Haus, auch wenn es mit dem Bild, das er davon im Kopf hat, kaum übereinstimmt. Der Garten heruntergekommen, die Fassade schmutzig und von Einschusslöchern überzogen. Ein Loch im Dach erinnert an den Raketenbeschuss im Bürgerkrieg der Neunzigerjahre. Verfeindete Milizen lieferten sich damals Häuserkämpfe in Kart-e Seh. Immer wieder – das immerhin weiß Hasib – musste der Vater nach Pakistan fliehen, während Milizionäre das Haus beanspruchten. Sporadisch war der Kontakt. Telefonverbindungen und Briefverkehr waren in den Kriegswirren zum Erliegen gekommen. Nur manchmal gab es ein Lebenszeichen, übermittelt von geflohenen Verwandten, die Nachrichten aus Afghanistan mitbrachten.

Hasib klopft, doch der Vater ist nicht zu Hause. In traditioneller afghanischer Kleidung steht er da; in Pluderhosen und einem langen Hemd aus beigefarbenem Baumwollstoff – und dazu einen Zwei-Wochen-Bart. „Das Wichtigste für mich war: nicht aufzufallen“, sagt er und nennt als Grund die Angst vor Entführern, die es vor allem auf reiche Exilafghanen abgesehen hätten. Die Verkleidung hat noch einen anderen Effekt: Mit ihr schlüpft der Deutsche in die Rolle des Afghanen. Einem Sanitärtechniker, der vor dem Haus des Vaters ein Geschäft hat, erzählt er, er sei Maler aus Masar-i-Scharif, einer Stadt im Norden des Landes. Bis es dunkel wird, sitzt er mit ihm vor dem Laden und trinkt Tee.

Die Begegnung mit dem Sanitärfachmann muss Hasib beeindruckt haben, denn er berichtet ausführlich und detailreich, wie er sich mit dem Mann über die Baubranche in Afghanistan unterhielt, mit welcher Selbstverständlichkeit ihn vorbeikommende Passanten begrüßten und dass ihn sein Gastgeber für einige Zeit mit dem Laden samt Kasse allein ließ. „Als ob ich schon immer da gewesen wäre“, sagt der Student. Offensichtlich fühlt er sich zugehörig und angenommen – als „echter“ Afghane zum ersten Mal seit 1988. All das wäre nicht ungewöhnlich, wenn der Kontrast zu der Begegnung mit seinem Vater nicht so groß wäre. Erst spät am Abend erreicht Hasib ihn per Telefon – die Nummer hat ihm ein Junge vor dem Haus gegeben, der sich später als sein Cousin entpuppt. Er bittet den Vater, zu jener Straßenkreuzung – dem Charahi Sedarat – zu kommen. Wer er ist, sagt er nicht.

Am nächsten Tag also stehen sich die beiden Männer gegenüber. Das muss eine absurde Situation gewesen sein. Der verlorene Vater und sein Sohn auf dem Bürgersteig, umgeben von Verkehr, Dreck und Lärm. Von nun an wird die Schilderung schemenhaft. Statt „er“ und „ich“ gibt es nur noch ein unpersönliches „man“. Statt seine Gesprächspartnerin direkt zu fixieren, schaut er nun oft auf die Tischplatte. Die meisten Sätze enden, bevor sie zu Ende sind. Hasib bricht ab, denkt nach, sucht nach Worten, um die Sprachlosigkeit zu beschreiben. Die ersten Worte des Vaters: „Ich kenne dich nicht.“ Dann gibt es statt Worten vor allem Gesten: umarmen, anschauen, weinen. Ein Taxifahrer, der mitweint. „Man hat die Nähe gesucht“, sagt Hasib. Details gibt er kaum. Was waren die Schlüsselerlebnisse, die wichtigsten Momente, Worte? „Das Wichtigste war, dass man sich gesehen hat. Nach so vielen Jahren weiß man erst einmal nicht, was man sagen soll.“

Die meisten Sätze zwischen Vater und Sohn enden, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben

Auch die nächsten Tage sind geprägt von dem Nichtgesagten. Irgendwann stellt der Sohn dann seine Frage: Warum bist du in all den Jahren nicht nach Deutschland nachgekommen? Die Möglichkeit hätte es wohl gegeben. Seine Mutter hatte einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, und zur Zeit der russischen Besatzung gewährte Deutschland vielen Afghanen Asyl. Am Geld für den Flug mangelte es auch nicht. „Er hat gesagt, dass irgendwie die Bürokratie schuld war“, sagt Hasib. Irgendwie. Nimmt er ihm das ab? „Schwierig. Das kann ich nicht beantworten. Das ist ja alles so lange her, und man kann ja nicht von heut auf morgen so eine enge Beziehung haben. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich ihm das nicht glaube. Das nicht. Aber. Ich kann’s mir vorstellen. Es kann sein. Es ist im Prinzip alles möglich. Ich weiß schon, dass diese ganze Bürokratiesache … dass das nicht einfach ist. Er hatte die Unterlagen, aber das hat irgendwie nicht funktioniert. Wieso, weshalb, weiß man nicht.“ Vielleicht wollte er nicht? Vielleicht war er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis enttäuscht, dass seine Familie nicht auf ihn gewartet hatte? Vielleicht hatte die Behandlung durch die Geheimpolizei seinen Willen gebrochen? Vielleicht.

Ihnen fehlen die Worte

Wo Worte fehlen, helfen Taten weiter. Seine letzten Tage in Kabul verbringt Hasib damit, seinem Vater einen Pass zu besorgen, damit er ein Besuchervisum für Deutschland beantragen kann. Er läuft von Amt zu Amt, sammelt Unterschriften von Behörden, besorgt die Antragsformulare von der deutschen Botschaft. Wenigstens einmal soll der Vater seine Frau und seine vier Töchter wieder treffen. So hofft es Hasib. Ob sein Vater das auch will, geht aus seiner Schilderung nicht eindeutig hervor. Er habe gesagt, er wolle nicht außerhalb von Afghanistan sterben, aber irgendwie sei deutlich gewesen, dass er wohl trotzdem wollte. Und die Mutter? „Sie war weder dafür noch dagegen. Sie hat es uns Kindern überlassen“, sagt Hasib. 20 Jahre sind wohl eine lange Zeit – erst recht, wenn der eine im Krieg lebt, in einem radikalislamischen Terrorstaat, und die andere im geordneten Berlin-Schöneberg.

Nach ein paar Wochen – Hasib ist längst zurück in Berlin – kommt die Antwort von der deutschen Botschaft: Das Visum wird nicht erteilt. Eine Begründung gibt es nicht, sondern nur einen Verweis darauf, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf eine Begründung habe. Genau wie damals: Eine Begründung gibt es nicht. Und doch ist es diesmal anders, denn diesmal gibt es einen Grund: Schuld trägt die Bürokratie. Trotzdem hat die Wiederentdeckung des Vaters etwas verändert: Hasibs Schwestern telefonieren nun regelmäßig mit Kabul. Hasib selbst tut das eher nicht. Der Vater höre schlecht, sagt er, die Leitungen seien nicht gut. Und: „Es hat sich nicht so ergeben.“ Irgendwie.