Die 365 Gründe Putins, nicht nach Bremen zu fahren

Der Besuch des russischen Präsidenten in Hamburg ist nichts Außergewöhnliches. Eine Botschaft wäre es hingegen gewesen, wenn er auf seinem Norddeutschland-Trip an die Weser gereist wäre. Dafür hätte er allerdings jede Menge lang entbehrter Kunst im Gepäck haben müssen

Achtung. Dies ist keine Nachricht. Dies ist ein Text über eine Nicht-Meldung im Zusammenhang mit dem Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Hamburg. Sie nimmt den Ausgang der Konsultationen vorweg. Und besagt, dass es zu keiner Sensation kommt. In der Anti-Nachricht geht es um Kunst, sehr viel Kunst sogar. Es geht um Krieg und Frieden, Recht, Unrecht, große Gefühle, Macht und Ideale. Und, klar, Sex ist auch im Spiel (siehe Abbildung). Ihr Wortlaut: Putin besucht Bremen nicht.

Ooch, wie langweilig! Das können ja auch Kiel, Hannover und Schwerin von sich behaupten. Aber das hat keine Bedeutung. Bei ihnen liegt das nur daran, dass Hamburg die Metropole ist – und sie selbst bloß Oberzentren. Bremen aber hat noch 364 weitere Gründe, von Putin gemieden zu werden: Zwei Gemälde und 362 grafische Arbeiten. Besser gesagt: Es hat sie nicht, der Kunstverein ist bloß ihr Eigentümer. Sie sind aber in russischem Besitz. Seit 1945.

Es ist Anfang Mai, Marschall Schukow hat Berlin genommen, die Kapitulation steht kurz bevor. Da erreicht eine Kompanie der Roten Armee ein Herrenhaus in der Prignitz. Sie beschlagnahmt es. Das Schlösschen Karnzow liegt etwa 15 Kilometer südlich von Herzsprung, direkt an der Kyritzer Seenkette. Sauberes Wasser, tiefe Wälder, plattes Land – reinste Natur. Aber, „wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur“ schrieb einst Albrecht Dürer und „wer sie heraus kann reißen der hat sie.“ So ungefähr geht es dem Architekten und Leutnant Victor Baldin. Im Keller des Quartiers macht der 25-Jährige eine Entdeckung: „Vor mir auf dem Boden verstreut“ schildert er sie später in einem Brief an Kriegsminister Kilim Voroschilow, „lagen Zeichnungen. Man trampelte über sie hinweg, verbrannte sie, steckte sie ein.“ Letzteres tat er selbst auch – weil er ihren Wert erkannte: „Ich nahm ein kleines Messer“, so seine Erinnerungen, „und schnitt im Lichte einer Kerze vorsichtig zwei Gemälde aus den Rahmen, einen Dürer und einen Goya.“ Das war der Grundstock der so genannten Baldin-Sammlung: Die ist ein zusammen geklaubtes Konvolut dessen, was zu transportieren war. Auf fast allen Blättern: Der Stempel der Bremer Kunsthalle. Denn die hatte einen großen Teil ihrer Bestände 1943 mit Beginn der Luftangriffen ausgelagert – in ein Schlösschen in der dünn besiedelten Prignitz. Bombensicher.

Die ersten Rückgabe-Verhandlungen führte in den 1990ern noch Außenminister Klaus Kinkel, zur Zeit ist Christina Weiss mit der Frage betraut. Man gebe „die Hoffnung auf gar keinen Fall“ auf, so ihr Sprecher. „Sonst wäre es ja ein reines Ritual.“ Zugleich räumt er ein, „dass wir im Vorfeld nicht so ermutigende Anzeichen erhalten haben“ – will sagen: Erfolgschancen gleich null.

Die Kunst ist laut Tolstoi ein „Mittel, Gutes und Böses zu unterscheiden“. Stimmt. So war Baldin einer von den Guten. Einer, der die Kunst für die Menschheit rettet, der von 1973 an für die Rückgabe eintrat und 1989 den bis dato vom KGB geheim gehaltenen Standort der Werke verriet. Nur wer sind die Bösen?

„Das juristische Glasperlenspiel“, so der Weiss-Sprecher sei „in allen Varianten durchgespielt“. Aber Gut und Böse sind keine rechtlichen Kategorien. So erlangte der damalige Kulturminister Michail Schwydkoi im März 2003 ungewöhnliche Bekanntheit, als er die Auslieferung jener Trophäen des Großen Vaterländischen Krieges verkündete: Die Duma stoppte die Ausfuhr, während draußen wütende Demonstranten Puppen mit dem Gesicht des Ministers verbrannten. Verständlich, dass sein Nachfolger, Alexander Sokolov, viel weniger Ehrgeiz bei der Problemlösung entwickelt – und auch Putin sich seither bedeckt hält. Denn die starke nationalistische Opposition weiß, wie man Ressentiments wach hält. So verknüpfte jüngst ein gewisser Anton Ivanov in einer Petersburger Gazette die Forderung nach einer deutschen Unterstützung des Tschetschenien-Kurses mit der Rückgabefrage. „Vielleicht sollten wir die Sammlung nicht für ein bloßes Dankeschön zurück geben“, schließt er seinen Beitrag. „Angemessen wäre, mit ihr als Einsatz zu verhandeln.“ Auch für eine unschätzbare Sammlung wäre das ein zu hoher Preis. Benno Schirrmeister