Wahlkampf im Irak mit Chemie-Ali

In Bagdad hat das Sondergericht mit der Einvernahme von Vertretern des gestürzten Regimes begonnen. Regierungschef Allawi, der auf eine baldige Aufnahme der Hauptverhandlung drängt, könnte das im Vorfeld der Wahlen im Januar nützen

AUS ERBIL INGA ROGG

In einem schlichten dunklen Anzug, kurz geschnittenem grauen Haar und auf einen Gehstock gestützt ist am Samstag Ali Hassan al-Madschid vor dem irakischen Sondergericht erschienen. Rein äußerlich erinnerte nichts an den berüchtigten „Chemie-Ali“, der auf alten Ton- und Filmaufnahmen Mordbefehle erteilt und brutal auf am Boden liegende Gefangene eintritt. Die Vernehmung von Madschid durch ermittelnde Richter des Sondergerichts markiert die erste Stufe in dem Verfahren gegen die Schergen des Regimes. Ebenfalls vernommen wurde Exverteidigungsminister Sultan Haschim Ahmed. Aus dem Umfeld der Interimsregierung verlautet, Ahmed werde gegen Madschid aussagen und ihn schwer belasten.

Madschid wie Ahmed gehören zum Kreis der elf Personen, denen neben Saddam Hussein selbst im Juli die Anklageschrift verlesen wurde. Da beide keinen eigenen Verteidiger bestellt haben, wurden ihnen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Über die einzelnen Anklagepunkte machte das Gericht auch am Samstag keine Angaben. Als sicher gilt, dass sich Madschid wegen seiner mutmaßlichen Verantwortung für die Giftgaseinsätze gegen die Kurden Ende der 80er-Jahre und die Ermordung von vermutlich mehr als 150.000 kurdischen Zivilisten während der „Anfal-Offensiven“ im Jahr 1988 verantworten muss. Darüber hinaus wird beiden der Überfall auf Kuwait sowie Beteiligung an der Niederschlagung der schiitischen Aufstände im Jahr 1991 zur Last gelegt.

Trotz der Bedeutung, die das Verfahren insbesondere gegen Madschid für die Kurden hat, reagierte man in Kurdistan gelassen. An der Schuld von „Chemie-Ali“ gebe es keinen Zweifel, insofern verdienten die Präliminarien zum Prozess auch keine besondere Beobachtung, lautet die in Erbil weit verbreitete Meinung. Da die Presse ausgeschlossen ist, erfuhr die Öffentlichkeit nur durch Standbilder, auf denen Chefermittler Raad al-Juhyi, die Angeklagten und Anwälte zu sehen sind, von den Vernehmungen. In einem Auftritt vor Journalisten versuchte Richter Raad al-Juhyi Bedenken von Menschenrechtsorganisationen zu zerstreuen, das Gericht stünde unter dem Druck der Interimsregierung. Die Vernehmungen seien Teil der Ermittlungen, sagte al-Juhyi. Zugleich versicherte er, dass das Gericht keine Eile habe und die Rechte der Angeklagten gewahrt würden.

Wie die Sunday Times gestern berichtete, will Saddam Hussein den gegen ihn geplanten Prozess in den USA anfechten. Ein zentrales Argument besage, dass das US-Recht Vorrang haben müsse, da das Verfahren auf Geheiß der USA stattfinde.

Der Druck auf das Sondergericht ist im Aus- wie Inland enorm. Menschenrechtsorganisationen bezweifeln die Kompetenz der Richter. Im Irak drängt Regierungschef Allawi seit Monaten auf eine baldige Aufnahme der Hauptverhandlungen. Kritiker werfen ihm vor, dass er sich so als der starke Mann zu profilieren sucht, der Saddam und seine Schergen ihrer gerechten Strafe zuführt.

Dass vor den Wahlen die ersten Urteile gefällt werden, wie hartnäckige Gerüchte in Kurdistan nahe legen, schließen ausländische Diplomaten aus, die mit den Verfahren vertraut sind. Trotzdem haftet den Vernehmungen der Beigeschmack von Wahlkampf an. Angesichts der starken schiitischen Allianz und des kurdischen Blocks scheinen die Tage von Allawi als Ministerpräsident gezählt. Das Blatt könnte sich aber wenden, wenn es ihm gelingt, sich bei den Schiiten als derjenige ins Bild zu setzen, der es mit ihren ehemaligen Peinigern allen Widerständen zum Trotz aufnimmt.