taz-Adventskalender (21): Bordell „Club Pigalle“
: Hier geht es schnell zur Sache – mit Quasseln

Stehen Sie auf fade Schokotäfelchen? Wir auch nicht. Die Türen des taz-Adventskalenders verbergen anderes: geheime Schätze und wilde Tiere, Sex and Crime. Letzte Dinge. Bis Weihnachten öffnen wir täglich eine Tür – auf einem Kalender namens Berlin.

3.000 Minuten quasseln – für nix! So lautet das Resümee meiner Recherche im „Pigalle“ – der kleinsten Mausefalle von Neukölln, in deren Mitarbeiterinnen sich laut Walter Benjamin der „Warenschein der Natur“ noch quasi persönlich verkörpert – dadurch, dass dort „die Lockungen von Weib und Ware“ miteinander verquickt sind.

3.000 Minuten, das sind 10 Nächte à 5 Stunden gleich 30-mal 2 Piccolo bzw. Cocktails, dort auch „Hawaiigelumpe“ genannt – also alles in allem ein halber Monatslohn. Wenn man reinkommt, nachdem man geklingelt und die lesbisch-litauische Bardame Vera einem geöffnet hat, sieht man meist die drei Bulgarinnen Ira, Ljuba und Nadja am Tresen sitzen und Tee trinken, während die zwei Lettinnen Rosa und Jacqueline auf der Bank neben dem Spielautomaten hocken und zur Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse Groschenhefte lesen: meistens Arztromane (sie waren früher Krankenschwestern).

Alle sechs Frauen gucken auf und mustern den Gast kurz, der sich darob eventuell gleich in die „Angstecke“ rechts von der Eingangstür verdrückt – in größter Entfernung von den Animierdamen. Damit entkommt er ihnen jedoch nicht. Denn irgendeine steht immer auf, seufzt, rückt ihr Dekolleté gerade und setzt sich neben ihn. Dann geht es auch gleich zur Sache – mit Quasseln.

Ist es Jacqueline, kann man eine Motorwäsche darauf verwetten, dass man in ein (so langes wie teures) Gespräch über Autos verwickelt wird. Ihr Freund hatte lange Zeit erst einen Manta und dann einen alten Volvo. Sie fand beide schick, steht neuerdings aber auf Rover. Bei Rosa ist es nicht ganz so teuer, dafür wird man intellektuell mehr gefordert, denn sie hat fast immer irgendwelche Fragen zur deutschen Grammatik auf Lager („Warum kann man zum Beispiel die Verben nicht alle regelmäßig machen?“).

Anders sieht es bei Nadja aus, die sich wohlmöglich gerade wieder neu einrichtet und wissen will, was sie von Ikea und Möbel Hübner halten soll – „in puncto Qualität“. Ähnliches gilt auch für Ljuba, nur dass sie es eher auf Elektronikware abgesehen hat: „Weißt du, was für einen Decoder ich brauche, damit mein Freund polnische Fernsehprogramme sehen kann?“, oder: „Was hältst du von dem neuen iPod?“

Ira gibt sich anfangs oft schweigsam und lässt den Kunden ihre Lieblingsthemen erraten, aber spätestens wenn dieser anfängt, ihr von seinen Eheproblemen zu erzählen, kommt sie unweigerlich auf Bräunungsstudios, das Solarium am Hermannplatz sowie auf Piercings und Pediküre zu sprechen – und wie gut es ihr jedes Mal geht, „rein körpermäßig“, wenn sie aus dem Fitnesscenter kommt. Stundenlang kann sie sich über die Unterschiede zwischen finnischer, türkischer Sauna und bulgarischer Banja auslassen. Dabei putzt sie die Piccolos weg, als wäre es Fassbrause. Was es genau genommen auch ist, die Mädchen trinken nämlich während der Arbeit keinen Alkohol. Angeblich, weil eine ja immer einen klaren Kopf behalten muss.

Sich mit der Geschäftsführerin hinter der Theke, Vera, zu unterhalten, gilt als ungehörig. Abgesehen davon beendet diese fast jedes Gespräch mit der Bemerkung. „Ich hab’s auch nicht leicht!“ Jetzt in der Vorweihnachtszeit mit der an die Mädchen gerichteten Variante: „Könnt ihr euch nicht mal etwas festlicher herrichten? Ich geb mir doch auch Mühe!“

HELMUT HÖGE

Morgen: Vergessener U-Bahnhof