AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON RENÉ HAMANN
: Die Projektion gehört den Schüchternen

Verpasste Kontaktaufnahme und andere Unbill vom Wochenende

Natürlich war ich etwas deprimiert. Die Tagesplanung für den Freitag wurde von einem Moment auf den anderen über den Haufen geworfen. Morgens saß ich noch frohgemut vor dem Café am Heinrichplatz, las und notierte. Bis ich feststellen musste, dass eine andere Tageszeitung als diese einen abgesprochenen Text nicht brachte: Die resolute Ressortleiterin hatte ihn im letzten Moment rausgeworfen. Am Telefon meinte sie, der Text sei alles andere als das versprochene Porträt geworden und dazu noch unfreiwillig komisch. Sie sagte, der Text sei in manchen Passagen „hohlspiegelig“ geraten. Ich wunderte und ärgerte mich.

Sicher, der Text war keine Glanzleistung. Wie immer hatte ich den Fehler gemacht, auf Routine zu setzen, wenn mir ein selbst auferlegter Auftrag lästig fiel. Aber Routine kann ich nicht. Und mit einem Satz, der ungefähr „Der Texter trägt Züge von Apokalypse“ lautete, kann man tatsächlich nicht viel anfangen (ein Fehler, der beim Umschreiben entstanden war: Aus zwei Sätzen war einer geworden und der hatte plötzlich das falsche Subjekt und ein falsches Verb dazu). Trotzdem fand ich das Attribut „hohlspiegelig“ nicht nur irgendwie altbacken, sondern auch unverschämt. Und das von einer Dame, die selbst in einem Artikel von „Musik, die sich ehrlich macht“, fabulierte!

Um Musik ging es im besagten Porträt auch. Es beschrieb die Hamburg-Berliner Subkulturkooperation Das Bierbeben, die eine neue, keinesfalls schlechte Platte draußen hat und am Freitagabend im Festsaal Kreuzberg spielte. Ich hatte Julia Wilton, die Sängerin, interviewt. Das war nett. Nach dem Interview hatte sie sich besorgt gezeigt, ob sie ihre Berufssituation betreffend zu freimütig gewesen sei. Daraufhin wollte ich ihr keinesfalls zu nahe treten und hatte private Bemerkungen gestrichen. Und jetzt das.

Dass ich tatsächlich nicht zum Konzert gegangen war am Abend, hatte aber nicht nur mit Scham und Schande zu tun. Sondern auch damit, dass meine Begleitung wegen Bauchschmerzen absagte. Und dass, kurz bevor ich losziehen wollte, ein heftiges Gewitter begann. Und dass sich quasi im letzten Moment überraschender Besuch ankündigte. Also blieb ich zu Hause.

Trost durch Milch, Alkohol, Nikotin, Gespräche. Am Samstagabend ging ich dann mit dem Besuch aus Köln in die Monarch Bar. Die Musik war gut und wurde im Laufe der Nacht immer schlechter. Es fing an mit elektronischer Musik der frühen Jahre. „New Life“ von Depeche Mode. Dann driftete der DJ in Abgründe ab. Es klang, als ob er die B-Seiten von Vanessa-Paradis-Singles spielte. Das Publikum im Monarch, dem Ort meines Vertrauens, wenn sich sonst nichts bietet, war angenehm gemischt. Touristen, Fremdsprachige, Neukreuzberger Hipster, ein paar Ältere, die so waren wie wir.

Dem Besuch fiel eine Frau mit übergroßer Brille auf. Sie hatte was Amerikanisches, obwohl sie perfektes Deutsch sprach. Großer Augenaufschlag. Jeder Satz fand die Begleitung eines Haare-aus-dem-Gesicht-Streichens, obwohl sie die eh schon zusammengebunden hatte. Nur Oberfläche und Hipnesszwang, fand mein Besuch. Bei der muss man ständig James Dean sein. Zu Hause langweilt sie sich, immer muss sie irgendwohin, wo etwas los ist, auf Konzerte oder Vernissagen, vermutete er.

Mir gefiel sie. Vielleicht verbirgt sich hinter der Fassade eine Verunsicherung, wandte ich ein. Eine Schüchternheit. Vorsicht vor Schüchternen, sagte mein Besuch. Mit ihr ins Gespräch kamen wir natürlich nicht, wir projizierten lieber, für direkte Kontaktaufnahme fehlte natürlich der Mut. Oder die günstige Gelegenheit. Oder beides.