berliner szenen Wo bleibt die Multitude?

Nikolausmützen überall

In der Weihnachtszeit ist das Elend der Stadt in Gänze sichtbar. Nicht nur, dass Autofahrer, weil sie im Stau stehen, mit dem Kopf auf die Hupe fallen, nicht nur, dass Buchhändler, Mobiltelefonberaterinnen und Fleischthekenfachkräfte wie bescheuert hinter ihren Pulten und Kassen hin und her rennen müssen, und nicht nur, dass die Zahl der Eltern, die ihre Kinder beim Einkauf zusammenbrüllen, ins Unendliche ansteigt, nein, jene, die Weihnachten erniedrigt und beleidigt, jene, die sich vom Festtagswahn zu Kaufmaschinen machen lassen, versuchen dabei noch fröhlich zu sein.

Und fröhlich sind sie in diesem Jahr nicht nur, indem sie die üblichen Tannenkränze und Lichterketten herzeigen, nein, die Erniedrigten und Beleidigten erniedrigen und beleidigen sich selbst, indem sie sich auch noch Nikolausmützen aufsetzen. Mein Bäcker etwa: Nikolausmütze auf dem Kopf. Der Mann vom Fahrradladen: Nikolausmütze. Die Türkin, die bei dem Billigbuchladen arbeitet: Nikolausmütze. Ja, selbst der arme Mann an der Straße, der für wenig Geld versucht, den aus der U-Bahn herausströmenden Massen ein Zeitungsabo aufzuschwatzen: Nikolausmütze. Manche tragen sogar eine, in denen winzige Dioden blau oder gelb vor sich hin blinken. Sollen wir uns schämen, wenn wir diese Menschen sehen, die sich vor und für uns lächerlich machen?

Vor einem Jahr warfen noch wenige ihre Würde so weg, heuer sind es Massen. Was tun?, die alte Frage der Linken. Müssen wir helfen? Wollen wir es? Wo bleibt die Multitude, wo bleibt die Arbeiterklasse? Vielleicht, so beschleicht uns manchmal der Verdacht, sind diese eben genau diese. Jedes Weihnachtsfest beweist noch mal: Es ist ein langer, harter Weg zur Befreiung der Menschheit. JÖRG SUNDERMEIER