Antisemitismus in Berlin wird gewalttätiger

Landesverfassungsschutz legt eine Broschüre zur Judenfeindlichkeit in den extremistischen Szenen der Hauptstadt vor. Sorge bereitet den Verfassungsschützern nicht zuletzt die relativ hohe Zahl junger Täter bei antisemitischen Delikten

Der Antisemitismus in Berlin ist seit ungefähr zwei Jahren auch gewalttätig. Darauf hat Innensenator Ehrhart Körting (SPD) gestern bei der Vorstellung einer neuen Broschüre seiner Verfassungsschutzabteilung über „Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins“ aufmerksam gemacht. Dies seien „Phänomene, auf die wir ganz erheblich achten müssen“, sagte der Senator. Antisemitische Gewalttaten machten in der politisch motivierten Kriminalität der Stadt etwa drei Prozent aller verzeichneten Delikte aus. Im vergangenen Jahr wurden 12 antisemitische Gewalttaten in der Hauptstadt registriert, in den ersten drei Quartalen dieses Jahres waren es bisher 9 gewalttätige Vergehen.

Dabei nahm die Zahl antisemitischer Straftaten, zu denen vor allem Volksverhetzung, Propaganda- und Beleidigungsvergehen gehören, von 2002 auf 2003 von 225 auf 171 Delikte ab, erläuterte die Leiterin des Berliner Verfassungsschutzes, Claudia Schmid. Von den 171 Delikten des vergangenen Jahres wurde die überwiegende Mehrheit von rechten Tätern begangen, nur 11 Delikte wurden ausländischen Extremisten zugeordnet. Bei den antiisraelischen Delikten stammen nach Ansicht des Verfassungsschutzes immerhin zwei von Tätern aus der linken Szene.

Sorge bereitet den Verfassungsschützern das relativ geringe Alter vieler Tatverdächtiger: „20 der bekannt gewordenen Tatverdächtigen waren zur Tatzeit 16 Jahre oder jünger“, heißt es in der Broschüre, „der jüngste festgestellte Tatverdächtige war 12 Jahre alt.“ Insbesondere bei antisemitischen und antiisraelischen Straftaten von ausländischen Tatverdächtigen sei das Durchschnittsalter mit 16 Jahren relativ niedrig – insgesamt liegt das Durchschnittsalter bei den Tatverdächtigen antisemitischer Straftaten bei 29 Jahren. „In erschreckender Weise“, so Schmid, habe es bei jungen Leuten eine „Enttabuisierung“ gegeben, was den Gebrauch antisemitischer Schimpfworte betrifft. Einerseits wollten sie dadurch provozieren. Andererseits sei dies auch eine Konsequenz antisemitischer Propaganda unter jungen Leuten.

Die Broschüre befasst sich nur mit dem Antisemitismus in den extremistischen Spektren der Hauptstadt – wie es dem Auftrag des Verfassungsschutzes entspricht. Erhebungen über den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft werden dagegen nicht dargestellt. Nach Ansicht von Schmid sind praktisch alle rechten Extremisten antisemitisch, da der Antisemitismus in dieser Szene eine „integrierende Funktion“ habe. Körting zufolge sind fast alle der etwa 3.700 Islamisten der Hauptstadt auch antisemitisch.

Gleichzeitig bezeichnete es der Senator jedoch als „höchst unwahrscheinlich“, dass sich zwischen den Antisemiten der rechten und islamistischen Extremistenszene eine antisemitische Querfront bilde. Nach Ansicht Schmids sind dafür die ideologischen Gräben zwischen den verschiedenen politischen und kulturellen Lagern zu tief.

PHILIPP GESSLER

Die Broschüre, die auch einen guten Überblick über die Ausdrucksformen und Funktionen des Antisemitismus unter Rechten, Linken und Islamisten bietet, ist kostenlos bei der Senatsinnenverwaltung zu beziehen: Postfach 62 05 60, 10795 Berlin, E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de. Weitere Informationen im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de