Die vielen Geschichten der 89

Eine Tafel erinnert an der Bülowstraße 89 daran, dass dort einst Sepp Herberger wohnte. Aber auch ein Sexualreformer lebte hier und Hausbesetzer. Und heute Maria Fernanda Höcker und Kamal Louh

VON JOHANNES GERNERT

Es hängt jetzt ein Schild an der Fassade, eine Gedenktafel, auf der steht, dass Sepp Herberger hier gewohnt hat, von 1937 bis 1944. Die Nummer 89 hätte ein paar mehr solcher Tafeln verdient. Eine für Klaus-Jürgen Rattay, der 1981 ganz in der Nähe vom Bus überfahren wurde. Und eine für Felix Theilhaber, den jüdischen Arzt, der Anfang des 20. Jahrhunderts als einer der Ersten gegen den Paragrafen 218 gekämpft hat, gegen das Verbot von Abtreibung und Verhütung.

Eigentlich gibt es über Sepp Herberger und die Bülowstraße 89 in Schöneberg am wenigsten zu berichten. Deshalb ist es auch verständlich, wenn Frau Höcker erst eine Weile überlegt und sich dann immer noch nicht ganz sicher ist. „Der Fußballspieler“, sagt sie, aber es klingt wie eine Frage. Sie hat das Schild gesehen, das über dem Hauseingang hängt. Frau Höcker kann sich nicht für Fußball begeistern. An die Besetzungen dagegen erinnert sie sich noch genau.

Als Maria Fernanda Höcker 1979 aus dem portugiesischen Angola nach Berlin kam, wunderte sie sich zunächst, dass die Stadt kein Trümmerhaufen mehr war. „In meinen Gedanken war alles noch halb kaputt“, sagt sie. Sie lernte Deutsch, arbeitete als Krankenschwester, traf ihren Mann und landete nach einigen Umzügen in einer kleinen Wohnung in der Kurfürstenstraße.

Viele Häuser in der Gegend waren besetzt, und obwohl sie damals eher bürgerlich gewohnt hat, war das alles für die junge Migrantin sehr aufregend: „Da war hier der Teufel los. Tatütata morgens und abends. Die Polizei hat die Leute bespritzt, die mussten rennen. Die jungen Leute haben mehr Mut gehabt. Das war richtig, dass die gekämpft haben. Irgendwie vermisse ich schon diese schöne Zeit.“

Von Klaus-Jürgen Rattays Tod hat Maria Fernanda Höcker aus der Abendschau erfahren. Sie hat da auch das Haus gesehen, in das sie wenig später umziehen würde. Innensenator Heinrich Lummer (CDU) hatte am 22. September 1981 die Bülow 89 und eine Hand voll anderer Häuser räumen lassen. Nun stand er dort auf dem Balkon und verkündete, dass die Bewohner wohl doch eher „kaputtbesetzt“ hätten und nicht „instandbesetzt“. Unten stand eine Polizeikette – vor einigen hundert Demonstranten.

Einer von ihnen war Klaus-Jürgen Rattay. Der 18-Jährige hatte gerade seine Lehre abgebrochen und war aus dem Westen nach Berlin gekommen. Die vorige Nacht hatte er im Hof eines besetzten Hauses größtenteils damit zugebracht, auf eine Metalltonne zu trommeln. Einen Reporter der Zeit brachte er damit um den Schlaf und sich selbst um ein Stück Schokolade. Der Reporter hatte seine Tafel aus erzieherischen Gründen nicht geteilt: Wer andere wach hält, verdient keine Schokolade. Er hat das Erlebnis Jahre später aufgeschrieben, weil Rattays Tod in ihm für kurze Zeit den Wunsch weckte, auch einmal einen Stein zu werfen, obwohl er zeitlebens überzeugter Pazifist gewesen war.

Irgendwann begann die Polizei an jenem Tag, die Demonstranten auf die Potsdamer Straße zu treiben. Die, die dabei waren, haben anschließend gesagt, dass vorher keine Steine geflogen waren, höchstens eine Dose. Weil niemand die Potsdamer Straße abgesperrt hatte, fuhr dort zu dieser Zeit auch ein BVG-Bus. Als der endlich nicht mehr fuhr, klemmte Rattay zwischen dem linken Vorderrad und der Karosserie. Die Feuerwehr streute Sägespäne über sein Blut.

Der Traum war für die Besetzer nicht aus, aber er war ein anderer geworden. Die Meinung in der Szene teilte sich. Einige wollten sich gewaltsam wehren und verachteten weiterhin jeden Kompromiss. Andere begannen nun zu verhandeln.

Maria Fernanda Höcker konnte mit ihrem Mann wenig später in die frei geräumte Bülowstraße 89 ziehen. Ein frisch renoviertes Haus. „Piccobello, alles neu.“ Sie bekamen drei Kinder. Ihr Mann zog aus und wurde zum Exmann. Ihre Kinder wohnen immer noch alle bei ihr. Hinterhaus, vierter Stock. Bianca ist 19 und macht eine Ausbildung zur Modenäherin. Sie sitzt neben ihrer Mutter am Küchentisch und findet es ein bisschen schade, wie sich „diese schöne Gegend, die damals Geschichte geschrieben hat“, gerade entwickelt. „Und jetzt nur Ausländer“, sagt sie.

Da fällt ihr die Mutter energisch ins Wort: „Es ist nicht nur wegen Ausländer, wir sind auch Ausländer, aber die Leute wollen sich nicht integrieren.“ Vor allem Türken und Araber würden im Haus wohnen. Früher waren es auch Griechen, Jugoslawen, Polen und überwiegend Deutsche. Früher hat die Hausverwaltung noch darauf geachtet, dass kein Ghetto entsteht.

Heute achtet nur noch Maria Höcker darauf. „Ich passe schon auf, dass das hier kein Chaos wird“, sagt sie. Als die Nachbarn auszogen, ist sie zur Hausverwaltung gegangen und hat deutsche Nachmieter gefordert. Die Türkinnen könnten kaum Deutsch, wenn sie sich mit denen unterhalten wolle, müsse sie Hände und Füße zur Hilfe nehmen. Eine nette deutsche Familie wohne jetzt nebenan. Maria Fernanda Höcker nickt zufrieden.

Kürzlich hat Kamal Louh erfahren, dass der Mann aus dem Hinterhaus Ägypter ist, ein Landsmann fast. „Und ich habe zu ihm immer hallo gesagt, hallo“, er fasst sich an den Kopf. „Warum sagt der nicht merhaba, wenn er schon weiß, dass ich Araber bin?“ Louh sitzt auf einem Schreibtischstuhl am Wohnzimmertisch. Seine Frau schenkt aus einer bunten Thermoskanne gewürzten arabischen Tee ein und verteilt gefülltes Gebäck. Neben dem Fernseher steht ein Computer. Auf dem Boden liegt eine Matratze. Über den Wohnzimmerteppich wirbeln drei kleine Kinder. Die Vierte ist mit zunehmendem Alter schon ein bisschen ruhiger geworden. Gelegentlich steht der Vater auf und hilft einem Kind auf die Beine oder interveniert, wenn etwas heruntergefallen ist.

Kamal Louh weiß, wer Sepp Herberger war, und das wissen in der Bülowstraße 89 nicht allzu viele. Sein Wissen hat ihm einigen Ruhm eingebracht. Er ist ein bisschen stolz darauf. Als vor einigen Wochen die Gedenktafel angebracht wurde, ging ein Tagesspiegel-Reporter im Vorderhaus von Tür zu Tür und fragte nach Herberger. Er fand erst im vierten Stock jemanden, der Auskunft geben konnte. Kamal Louh sagte: „Klar, der Mann mit der Mütze, Wunder von Bern.“ Der Reporter schrieb: „Klar, der Mann mit dem Hut.“ Kamal Louh sagt immer noch: „Klar, der Mann mit der Mütze.“ Schade, dass keiner weiß, wo genau Herberger im Haus gewohnt hat, findet er. Man weiß nur, dass er in Berlin an der „Deutschen Hochschule für Leibesübungen“ studiert hat. Dass er Reichstrainer wurde und NSDAP-Mitglied. Und dass er 1944 mit seiner Frau nach Weinheim zog, weil sie ausgebombt worden waren.

Es ist 17 Jahre her, dass Kamal Louh nach Deutschland kam, um Medizin zu studieren. Von Anfang an hat er Fußball im Fernsehen verfolgt. Es ist weit mehr als 17 Jahre her, dass Felix Theilhaber nach Palästina ging, um nach einigen Jahren schließlich wieder als Arzt zu arbeiten. Theilhaber war Jude und hatte 1913 die Gesellschaft für Sexualforschung (Gesex) gegründet, deren Ziel es war, Arbeiter gesundheitlich aufzuklären. Theilhaber und seine Mitstreiter kämpften für Geburtenkontrolle, für das Recht auf Abtreibung und gegen das Verbot von Verhütungsmitteln. Der Arzt gab an die 20 Heftchen heraus. Einige schrieb er selbst. Sie trugen Titel wie „Die menschliche Liebe“, „Sexualität und Erotik“ oder „Das Weib vor und in der Ehe“. Das Büro der Gesellschaft befand sich in der Bülowstraße 89. Noch 1932 forderten auf einer Demonstration, die die Gesex initiiert hatte, 2.000 Menschen Sexualreformen. Wenig später kamen die Nazis an die Macht und zerschlugen die Reformbewegung. Theilhaber verließ Deutschland.

Den jüdischen Sexualreformer kennt Kamal Louh nicht. Über israelische Juden aber kann er einiges erzählen, etwa, dass die Palästinenser mit den Juden gut leben könnten, wenn die Juden das nur wollten. Louh ist Muslim. Seine Familie wohnt im Gaza-Streifen. Er werde dorthin zurückgehen, wenn das mit der Aufenthaltsgenehmigung trotz Zuwanderungsgesetz immer noch nicht klappt, sagt er. Es hört sich trotzig an. Louh ist Zahnarzt, aber er arbeitet als Krankenpfleger. Er hat vier Kinder, aber er bekommt kein Kindergeld. Natürlich zahlt er Steuern.

Manchmal fragen ihn seine Kollegen, wie er mit dem Geld zurecht kommt. „Wir leben bescheiden“, antwortet er dann. „Wir wohnen im vierten Stock, ohne Aufzug, zu sechst in einer Dreizimmerwohnung. Die Kinder haben ihre Großeltern seit vier Jahren nicht mehr gesehen.“ Flüge nach Palästina sind teuer. Er hätte nach Norwegen gehen können und dort als Zahnarzt arbeiten. Er hatte ein Angebot. Wenn er alleine gewesen wäre, hätte er es gemacht. Aber er will den Kindern keine neue Sprache zumuten. „Du bist frei, fang einfach von vorne an“, singt eine Zeichentrick-Prinzessin aus dem Fernseher.

Draußen ist es jetzt dunkel. Ein Mann mit Mütze schleppt zwei Bierkästen über den Hof und rotzt geräuschvoll in die Büsche. Neben den Tonnen liegt Müll. Die Hauswand hat einen seltsam rosafarbenen Anstrich. An manchen Stellen wölbt sich der Putz nur, anderswo ist er schon abgeplatzt. Die Nummer 89 steht unscheinbar zwischen den anderen Häusern, das Sepp- Herberger-Schild ist kaum noch lesbar. Eine junge Frau wartet am Straßenrand auf Freier. Auf der Potsdamer Straße fahren Busse.