Zum Feiern ist es noch zu früh

Wiktor Juschtschenko führt zwar in Umfragen, doch sein Gegenspieler Janukowitsch sammelt seine Anhänger – diese drohen offenbar mit Gewalt

AUS KIEW BARBARA OERTEL

Vor dem Wahlbüro von Wiktor Juschtschenko im Kiewer Stadtteil Podol hat sich eine Schlange gebildet. Hinter einem Klapptisch steht eine Frau und verteilt orange Schals, Halstücher, Plastikstreifen und Poster mit dem Konterfei Juschtschenkos. Autos passieren hupend und mit blauweißen Janukowitsch-Flaggen die Straße. „Schert euch zum Teufel“, brüllt einer, der sich noch nicht zum Tisch vorgearbeitet hat, und er hebt die Faust.

Laut jüngsten Umfragen des Kiewer Razumkow-Zentrums wollen am Sonntag 47,3 Prozent für Juschtschenko und 38,7 Prozent für Janukowitsch stimmen. In der Tat spricht einiges dafür, dass die Neuauflage der Stichwahl um das Präsidentenamt fairer verlaufen wird. So wurden vier Mitglieder der Zentralen Wahlkommission – inklusive des Leiters – ausgetauscht, sowie alle regionalen Wahlkommissionen paritätisch besetzt. Zu Hause wählen dürfen nur noch Schwerstbehinderte. Mehrfachabstimmungen von Herumreisenden sollen dadurch verhindert werden, dass der Pass gestempelt wird. Zudem werden über 10.000 internationale Wahlbeobachter erwartet, bis zum vergangenen Freitag waren bereits 5.582 registriert.

Dennoch sieht Oleksej Litschkovach vom Komitee der Ukrainischen Wähler, das nach dem zweiten Wahlgang am 21. November 1.200 Beschwerden beim Obersten Gericht eingereicht hatte, noch Einfallstore für Betrug. „Mitglieder der Regionalen Wahlkommission, die dort für Janukowitsch sitzen, können sich am Wahltag krank melden. Da ist die Kommission erst einmal beschlussunfähig, weil die Parität wieder hergestellt werden muss. Dann bekommen wir ein Zeitproblem“, sagt er. Janukowitsch und seine Anhänger haben auch noch andere Tricks auf Lager. So berichtete Wladimir Scretowitsch, Abgeordneter der Juschtschenko-Partei „Unsere Ukraine“ von Vorbereitungen des Innenministeriums, tausende von so genannten temporären Meldebescheinigungen zu drucken. Die werden in den Pass nur als Blatt eingelegt und nicht abgestempelt – was wiederum Mehrfachvoten ermöglicht.

Der Politologe Wladimir Fesenko vom Kiewer Zentrum für politische Studien (Penta) rechnet außerdem mit einer geringeren Wahlbeteiligung als bei den ersten beiden Wahlgängen. Auch würden sehr viele gegen beide Kandidaten stimmen. „Viele sind enttäuscht, weil sie doch einen größeren Erfolg der Massenproteste erwartet haben.“

Auf dem Kiewer Boulevard Kreschtschatik ist von Enttäuschung wenig zu spüren. Passanten streiten sich über den Fernsehauftritt der beiden Kandidaten vom Montag. „Janukowitsch hat doch auf keine einzige Frage geantwortet“, empört sich eine Frau, „den kannst du vergessen!“ Eine andere findet, dass Juschtschenko gepunktet habe, denn „er hat diesmal nicht vom Blatt abgelesen“. Während Juschtschenko beim Schlagabtausch im Fernsehen auf die Wahlfälschungen einging und die Versäumnisse der jetzigen Regierung anprangerte, gerierte sich der Gegenspieler und beurlaubte Premier als Opfer. „Die Macht hat sich mit den Vertretern des orangefarbenen Putsches verbündet. Das ist ein Bündnis gegen das Volk“, sagte er, entschuldigte sich aber, die Protestler als „orange Ratten“ tituliert zu haben.

Doch auch diese Entschuldigung lässt nach Meinung von Experten keinen Zweifel daran, dass sich Janukowitsch nicht so einfach geschlagen geben wird. So will Grigori Olmeschenko, Abgeordneter und Vizevorsitzender des Ausschusses für Fragen der organisierten Kriminalität, laut der Internetzeitung Ukrainskaja Prawda wissen, dass sich so genannte Truppen der Selbstverteidigung aus dem Donetzker Gebiet nach Kiew reisen wollen, um dort am Abend des 26. Dezember Zusammenstöße zu provozieren. Sie hätten zu diesem Zweck Waffen von der russischen Schwarzmeerflotte gekauft. Deren Kommando dementierte umgehend.

Die Gruppe der Diskutanten auf dem Kreschtschatik hat sich vergrößert. „Du lebst noch in der alten Zeit“, schreit eine alte Frau einen jungen Mann an, als dieser sich als Janukowitsch-Anhänger outet. Eine junge Frau im Pelzmantel mischt sich ein. „Sie kennen doch die Anekdote: Man wird vergewaltigt, und dann heißt es, entspann dich und genieße es. Das hat sich Janukowitsch wohl so vorgestellt. Doch jetzt ist Schluss. Wir lassen uns nicht mehr betrügen.“

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