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: Andersen

So klirrend klar, so meerestief, so traurig schön und so dreist kann nur einer erzählen: Hans Christian Andersen. Völlig sinnlos, mich von dieser Auffassung abbringen zu wollen. Bei Andersen freue ich mich sogar über ein Jubiläum, und das will was heißen. Zweihundert Jahre wäre der Däne am 5. April 2005 alt geworden, wenn er nicht schon 1875 gestorben wäre, natürlich. 2005 wird also ein Andersen-Jahr, und mir ist es mehr als recht.

„Weit draußen auf dem Meer ist das Wasser ganz blau wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume und ganz durchsichtig wie das reinste Glas, aber es ist sehr tief, tiefer, als eine Ankerkette reicht, viele Kirchtürme müssten übereinander gesetzt werden, um vom Grunde über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnen die Meerleute.“ So fängt „Die kleine Meerjungfrau“ an, und man spürt sofort, wie schwer es alle Bildumsetzungen fürs Kino hatten, diesem bildhaften Sog der Sprache zu folgen. Und obwohl ich keine Verächterin der Zeichentrickmeerjungfrau bin, möchte ich doch behaupten, dass noch nie jemand an die Wirkung des Originals herangekommen ist. Am allerwenigsten wohl das mickrige graue Etwas, das man in der Regel bei Stadtrundfahrten in Kopenhagen zu sehen bekommt.

„Die kleine Meerjungfrau“, klar, und „Des Kaisers neue Kleider“, Letzteres einst, lang ist’s her, auch ein Kultstück der alternativen Politkultur. Und wenn jetzt der Kaiser nackt zwischen seinen Untertanen stolziert, dann erklingt zu dieser wahnwitzigen Prozession der Pilgerchor aus Richard Wagners „Tannhäuser“ als freche Klavierfassung – und dann auch noch so scheinheilig harmlos dahergeträllert.

Nein, da gibt es nichts: „Des Kaisers neue Kleider“ ist ein weiteres Bravourstück aus dem See-Igel-Verlag, ein Hörbuch, in dem Matthias Brandt mit so bewundernswert selbstverständlicher Schmeichelstimme erzählt, dass die Salon- und Caféhauseinspielungen des Ensembles aus Bläsern, Streichern und Klavier ganz leicht und wie gemacht für diese Geschichte wirken. Und falls Sie diese Klassikhörbücher für Kinder noch nicht kennen sollten, gehen Sie mal ins Internet – www.see-igel.de, es lohnt sich nicht nur der „Kaiser“, sondern das volle Programm.

Und vielleicht suchen Sie ja auch sonst noch etwas richtig Gutes fürs neue Jahr. Dann nehmen Sie doch den neuen Andersen-Märchenband mit den Bildern von Nikolaus Heidelbach– es ist schlicht unmöglich, damit etwas falsch zu machen. Heidelbach, bereits Brüder-Grimm-erfahren, ist uneingeschränkt der Größte auf diesem Gebiet. Wie soll man das beschreiben? Er hat einfach alle Spielarten drauf, ist ein unglaublicher Spötter, ist ein sehr realer Seelenkenner und malt sehnsüchtige Traumbilder. Schön sind auch die weniger bekannten Märchen – hier sind ja leider nur 43 der 156 Märchen, die Andersen geschrieben hat, enthalten.

Man ist ein bisschen ratlos, weil es für den Andersen-Band aus dem Sauerländer-Verlag fast unmöglich scheint, sich dagegen zu behaupten. Und das ist nicht ganz fair. Denn Strich und Farbsetzung von Joel Stewart sind durchaus sehenswert. Aber durchsetzen kann sich das Buch wohl vor allem über den Preis: Es kostet nur halb so viel wie der Heidelbach-Andersen, was ja auch kein schlechtes Argument ist.

ANGELIKA OHLAND

Hans Christian Andersen: „Märchen“. Bilder von Nikolaus Heidelbach. Aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt. Verlag Beltz und Gelberg, Weinheim 2004, 376 Seiten, 38 EuroHans Christian Andersen: „Das große Märchenbuch“. Illustriert von Joel Stewart. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2004, 208 Seiten, 19,90 Euro„Des Kaisers neue Kleider“. Nach einem Märchen von Hans Christian Andersen. Hörbuch-CD. Textbearbeitung: Ute Kleeberg. Erzähler: Matthias Brandt. Musik von Jean-Baptiste Lully, Francesco Paolo Tosti und Richard Wagner u. a., bearbeitet für Salon-Orchester. Edition See-Igel, Iznang am Bodensee 2004, 15,50 Euro