In seiner rohen Hand viele große Pflaster

Krankheit hat ihn weicher gemacht, Älterwerden nahbarer. Gewohnt, an sich und seinen Kindern zu scheitern, sich und anderen nicht zu genügen, wird der Vater Weihnachten nicht mehr allein feiern. Das freut ihn, den Stiesel, der nie wusste, wie das geht, und dem das irgendwie doch noch gelingt: seine Lieben zu behüten

VON MARTIN GONSMANN

Im August rief er an. Fragte, wie es gehe. Gut, danke, man kommt über die Runden. Irgendwie war es schön, ihn zu hören. Dann sagte er, er müsse nun ins Krankenhaus, einer Prostatageschichte wegen. 74 Jahre ist er alt, im späten Frühjahr schrieb er auf einer Postkarte, nun sei er älter, als seine Mutter war bei ihrem Tod. Nun sei es ihm genug. Was er dann, ja nur Wochen später, am Telefon berichtete, hörte sich an wie eine Notiz. Eine Nachricht, die zu übermitteln wichtig sei. Und er hörte sich wirklich anders an als früher. Oder hatte ich mir das nur einreden wollen?

Schon seinen Geburtstagsgruß empfand ich anders als sonst, in den Jahren mit Mitteilungen nur der nötigsten Art. Es könnte vor einem Jahr gewesen sein, als er seine Urlaubskarten persönlicher denn je schloss. „Dein Vater“, hieß es, als Anrede wählte er den Kosenamen aus Kindertagen. Musste ich es nun anders empfinden, da er nun viel Glück wünschte und schrieb, dass er es schön fände, wenn ich ihn mal wieder besuchen käme?

Ich brachte es nicht fertig, ihn als Vater zu nehmen. Als meinen Vater, der vielleicht nicht nur harsch, nicht nur brutal, nicht nur streng ist. Sollte er doch Weihnachten allein bleiben. Was konnte man selbst dafür. War doch nur gerecht für sein Poltern, seien Giftereien, seine Schläge und seine Art. Laut, drastisch, roh.

Aber jetzt, da er ins Krankenhaus sollte, irgendwie wurden von diesem Moment an die Nächte unruhiger. Freunde merkten das zuerst. Du erzählst von ihm anders, sagten sie. Gibt es noch mehr, was er auch war und was bisher aus dem Bild von ihm gerissen wurde?

Ohne eine Spur von Neuem über ihn kamen alte Bilder an die Oberfläche wie eine Öllache auf einen Wasserspiegel. Schlierig, bunt, wirr. Der Vater, der doch immer sagte, er wisse immer, wo seine Kinder sich befänden. Was einem selbst wie eine Drohung vorkam, wie ein Kontrollieren. Und jetzt wie ein Blick, der sich immer vergewisserte, dass es sie gibt. Und dass es ihnen gut geht. Bilder von einem Mann, der wie ein Berserker strafen konnte, wütend, roh und fürchterlich. Der aber auch die Person war, die vor der Lehrerin sich aufbaute und ihr kalt und sehr laut sagte, ihr Sohn werde nie und nimmer auf eine Sonderschule kommen, jedenfalls nicht, solange er lebe, und darauf könne sie sich verlassen, das werde noch lange sein.

Oder wie er weinte, nach Hause kommend von einem seiner Ausflüge in seine geliebte Kneipengegend, dort hockend und trinkend wie in seinen sehr jungen Jahren, peinlich schwach und melancholisch ganz weit über seine Biere hinwegschauend, als ob dort ein Fluchtpunkt wäre, den er etwas aus den Augen verloren hatte. Was war er jammervoll, kam er dann nach Hause. Mit Geschenken, einem afrikanischen Speer oder einem Buddelschiff, die man nicht wollte. Mit Gefühlen, die zu stark waren. Und mit Entschuldigungen, die keiner hören wollte.

Er hat ja versucht, ein guter Vater zu sein, aber man konnte ihm nicht verzeihen, dass er so oft nicht da war, blau gemacht hat und viele Überstunden. Es duldete kein Pardon, wenn er schon wieder den Macker rauskehrte und nicht so geschmeidig war wie andere Väter, die wenigstens mit ihren Kindern zur Tankstelle fuhren. Unser Vater hatte nur ein Fahrrad, und mit dem fuhr er oft sehr weite Wege. Neulich aber fing er an, über Erziehung zu reden. Seine Erziehung. Dass er kein Nazi war, zu jung und zu prollig seine Herkunft. Vereine hat er nie gemocht, sagte er, und er habe sich immer geschämt für seine Mutter, die immer irgendwie ins Krankenhaus musste. Dann musste er seine zwei Geschwister versorgen. Hitlerjugend? Die war ihm nicht attraktiv.

Die Erziehung, antwortete er auf die Frage, die nie gestellt wurde, seine Erziehung sei bestimmt geprägt gewesen von der Zeit, in der Härte zählte und Gefühle Angst machten. Und sein Ton, als er dies bemerkte, hatte nichts, was auf eine Entschuldigung hinwies. Mehr von der Art, die einem erst viel später auffällt. Dass er sich so seine Gedanken gemacht hat über das, was war, über das, was jetzt zu überlegen wichtig wird.

Älter zu sein als die Mutter, die man überlebt hat, ist ihm kaum tröstlich. Denn es besser zu machen als sie, das war nun, sagt er, nicht sehr schwer. Er sagt, sie habe früh ihr Leben verpfuscht. Und sagt nicht, meint es vielleicht nur: Das habe er anders machen wollen.

Nun, im Krankenhaus, als irgendetwas uns Kinder dazu trieb, ihn zu sprechen, nicht am Telefon, sondern direkt, spricht er. Dass er sich allein fühlt und nicht weiß, wie er da herauskann. Dass er Furcht hat, abhängig zu sein von Pflege und von den Händen fremder Leute, die ihn berühren. Bestimmt sei dies gut gemeint, aber er wünscht es anders. Was? Er weiß es nicht.

Ist es nur ein anderer Film, der lange Jahre überbelichtet schien und nun doch in den passenden Farben schimmert? Mein Vater liegt in seinem Krankenbett und erzählt, dass der junge Mitpatient, der auf seinem Laptop vor sich hin klapperte, ihn genervt habe. Und nun sei er weg, und das sei erst recht schade. Als ich seine Hand anschaue, wie früher so groß und so akkurat gepflegt, sehe ich sie plötzlich wieder vor mir, wie sie früher immer viele Pflaster aufklebte, auf blutige Knie oder auf Schrammen am Kopf. Hände, die meinen Kopf nach einem schweren Unfall als Kind nahmen und wärmten. Er sagte damals, es war am zweiten Weihnachtstag, ich müsse nun ins Krankenhaus, aber alles werde gut.

Weshalb fällt mir erst nun ein, dass er ja sein Versprechen hielt? Es wurde wieder gut, und die Narbe, sagte er ja schon immer, an den Augenbrauen, die sei doch kaum zu sehen. Ein Künstler hat die genäht, schwört er, sonst wäre es ganz anders gekommen.

Er möchte geliebt werden. Als Vater. Als einer, der nicht nur – das sagt er aber nicht – das Geld nach Hause brachte. Und er will Respekt. Für sein Leben. Für seine Mühe, seinen Aufstieg und das Scheitern an dem, was er nicht vermocht hat. Warum, wie in einem Anfall von Schuld, haben wir, habe ich das vorher nie sehen können? Ach, wieso konnten wir beide nicht zusammen sein, ohne uns zu enttäuschen und zu bezichtigen? Warum war ich am Ende immer härter, erbarmungsloser als er? Was stand gegen ein Verzeihen?

Hass? Keiner mehr. Sehnsucht nach einem guten Vater? Kann sein. Die Strafe für die Zeit, die er nie da war, wenn er da sein sollte? Ich schäme mich. Konnte er etwas dafür, dass man das eigene Leben nicht so recht begriff? Er bat ja immer, ihm mit allem zu kommen, mit Sorgen, mit Nöten.

Einmal sagte er tatsächlich etwas, in einer Liebesangelegenheit. Was können Eltern, was kann der Vater in Sachen Liebe schon sagen? Doch er hatte Recht. Wer Angst hat, meinte er und verriet damit seinen genauen Blick auf mich, sei auch feige. Er wies mir den Weg aus einer gescheiterten Liebe. Es war für mich der erste Anlass, ihn irgendwie auch zu bewundern, dass er klug ist. Dass er weicher ist als viele Männer seiner Generation, sein Äußeres eine Täuschung.

Ich werde ihn Weihnachten besuchen. Es gibt darüber keine Worte, die gewechselt werden mussten, aus welchen Gründen auch immer das dieses Jahr möglich ist. Er sagte, er werde kochen. Und was ich mir zu essen wünsche. Eigentlich schäme ich mich immer mehr. Aber ich konnte ihn nicht eher lassen, in seiner Art.

Es ginge nicht, sagte ich zu ihm. Und er erwiderte, er verstehe das nicht und das müsse er ja auch nicht.

Neulich hatte er keine Zeit für einen Besuch. Ich war doch ziemlich beleidigt. Eigens aus Husum angereist, weit bis nach Aachen. Und dann hat er andere Pläne. Eigene jedenfalls. Seine neue Freundin, von der er ja nicht wisse, wie es mit ihr werde, ich verstünde doch bestimmt. Nein, tat ich nicht. Und doch. Nach dieser Geste des Abweisens empfand ich ihn noch näher. Er hat nicht alle Kraft eingebüßt, er setzt Grenzen, er ist kein Pflegefall geworden.

Es könnte jetzt so etwas wie ein schöner Frieden beginnen. Weihnachten zum Beispiel. Es ließe sich in aller Ruhe miteinander umgehen. Nicht nur am Telefon, nicht hastig, auch über Dinge reden, die vielleicht so etwas wie ein Fest der Ruhe benötigen, um zu spüren, dass etwas anders werden kann.

Neulich hat er sich erkundigt, wie es denn um die Liebe stehe. Und ob es nicht Zeit sei, sich nicht nur beruflich zu kümmern. Es schien, als könnte dies die Frage zu einem Anfang sein, der den anderen einfach gelten lässt.

MARTIN GONSMANN, 39, lebt als freier Autor und Landwirtschaftsgehilfe in Nordfriesland